Donaueschinger Musiktage 2002 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2002: "Die Seele muss vom Reittier steigen ..."

Stand
Autor/in
Klaus Huber

Unser Blick auf die Welt ist verschoben.
Wir schielen alle. Das Auge schielt. Das Ohr schielt.
Und unser Denken ist durch einen
übermächtigen Magneten abgelenkt.
Wachstum, Wachstum über alles.
Der totalitäre Markt.

Klaus Huber
29. 4.2002

In meinem Beitrag zur Festschrift "75 Jahre Donaueschinger Musiktage" schrieb ich vor sechs Jahren:

Soziologen analysieren: Weit über sechzig Prozent der musikkulturellen Reproduktion heutiger Gesellschaften geschieht auf virtuelle, indirekte, digitalisierte und ständig weiter manipulierte Weise. Hierfür ist der absolute Glaube an die Quantifizierbarkeit aller – auch der menschlichen – Werte unerlässliche Voraussetzung. Statistik ist die unangefochtene Herrscherin, die schließlich alles – fast alles – im Rachen des Konsums verschwinden lässt, mit beträchtlichen Gewinnen für all zu wenige.... Das "Verschwinden der Wirklichkeit", die im multimedialen Zeitalter mehr und mehr gegen virtuelle Wirklichkeiten eingetauscht wird, führt paradoxerweise keineswegs zur gleichzeitig eifrig propagierten "superindividuellen" Freiheit, sondern geradewegs zu immer mächtiger sich entfaltenden Manipulationspotentialen. Fazit: die Verdinglichung des Menschen und damit zwangsläufig auch seiner Künste schreitet unaufhaltsam voran.

(auch in: Klaus Huber, Umgepflügte Zeit, Schriften und Gespräche, MusikTexte, Köln 1999)

Je tiefer wir in die Potentiale der Musik als Kunst eindringen, desto deutlicher zeigt sich, dass Musik ohne Transzendenz keinen Bestand hat. Noch drastischer als in anderen Künsten stellt sich in ihr die Frage: was ist "außen", also materialisierbar, was ist "innen", also erlebbar, ohne materiell zu sein. In ihren tiefsten Wurzeln ist sie aber immer so etwas wie eine reale Darstellung von Welt im Medium ihrer Zeitlichkeit. Solche Gedanken verfolgen mich ständig, insbesondere, wenn ich komponiere ...
In den zwölf Jahren meiner Beschäftigung mit arabischer Musik und besonders ihrer klassischen Musiktheorie begleitete die Auseinandersetzung mit dem Sufismus meinen Weg. – Dabei stieß ich auf eine Ode des epochalen Universalgelehrten Ibn Siná-Avicenna, in welcher er Weg und Schicksal der menschlichen Seele in mystischen Bildern zeichnet und philosophisch erörtert. Man bedenke, Avicenna, der frühe Aufklärer um die erste Jahrtausendwende, fand keinen Widerspruch darin, sufistische Ganzheitserfahrung der Schöpfung in einer Ode zu besingen, die den existenziellen Weg der menschlichen Seele beschreibt.

Ernst Bloch griff Avicennas Fragestellungen als einer der ersten in einem Text von 1952 wieder auf, in welchem er auch die Bedeutung analysiert, die Avicennas und Averroës Philosophie für die Entfaltung abendländischen Denkens hatte: "Avicenna und die Aristotelische Linke", Edition Suhrkamp 1963.

Wenn ich nun meine, wir abendländischen Künstler müssten – nicht nur in unserer Aesthetik sondern mit unserer ganzen Existenz – uns der eine breite Gegenwart beherrschenden Verdinglichungswelle entgegenwerfen, so stellt sich die Frage: Wie leisten wir einen rational verankerten, nicht gänzlich wirkungslosen ästhetischen Widerstand?

Jacques Derrida hat in seiner Frankfurter Rede bei der Überreichung des Theodor W. Adorno-Preises an ihn (2001) eine erstaunliche Aufwertung des Traum-Denkens vorgenommen. Derrida weist für den Traum eine hohe Rationalität nach, die jene des wachen Bewusstseins zu übertreffen vermag. Und das anhand einer Gedanken-Kette, die kein Geringerer als Walter Benjamin träumte und sorgfältig nachformulierte.
Wäre es nicht an der Zeit, die innere, ganzheitliche Existenz des Menschen, das heißt seine Seele, als eine Wirklichkeit anzuerkennen, die ebenso rational auf das Weltganze bezogen ist wie alle äußeren Wirklichkeiten? Derrida hat hier einen ersten Schritt getan. Ich komme auf Avicennas Ode zurück, die mich fortan nicht mehr losließ.

Sie führte mich vom ursprünglichen Konzept eines Cello-Konzertes bis hin zum hier in Donaueschingen uraufgeführten Werk.
Hatte ich, immer in der Nähe von Avicennas Ode, bereits die Solistenbesetzung erweitert, so unterbrach mich jetzt die Gegenwart. Ich las im April dieses Jahres ein bisher unveröffentlichtes Gedicht des palästinensischen Dichters Mahmoud Darwisch, das dieser im Januar 2002 im belagerten Ramallah niedergeschrieben hat.
Seine Dichtung hat mich so tief berührt, dass sie mich von Avicennas Ode, die der konzeptuelle Hintergrund meiner Komposition geblieben ist, wegführte in die Gegenwart.

Für mich aber ebenso verblüffend wie bestätigend, wenn Darwisch – ob bewusst oder unbewusst – in einer zentralen Strophe seines Gedichts ("Die Seele muss vom Reittier steigen und gehen auf ihren Seidenfüßen") unüberhörbar Avicennas mystische Tiefe erreicht, tausend Jahre später.
Auf Gegenwart reagierend, wie ich es nicht anders kann, hoffe ich mit meinem Werk einen bescheidenen Beitrag zu leisten gegen die fortschreitende Verdinglichung des Menschen (samt seiner Seele ...), zur Rettung des Menschlichen in einer Zeit, die sich anderen Zielen verschrieben hat. – Und das im vollen Bewusstsein einer extrem brutalisierten Gegenwart, nicht nur in Palästina.

Un autre monde est possible.

Mahmoud Darwisch ist mir hierin ebenso Vorbild wie, als der ganze Andere, mein Gegenbild.
Was kann Poesie, was kann Kunst im extremen Konfliktfall leisten und was kann sie nicht? Hierzu Darwisch:

"Die Verteidigung einer Welt, einer Periode, die im Sterben begriffen ist, ist verwandt mit der Reaktion kleiner Lebewesen, wenn sie vom Sturm bedroht sind. Sie verbergen sich zwischen Steinen, in Erdspalten, in Löchern, in der Rinde eines Baumes. Die Poesie ist nichts anderes als genau das. Sie ist jenes kleine Lebewesen, das nicht die Stärke besitzt, die man in ihm vermutet. Ihre Stärke besteht in ihrer extremen Zerbrechlichkeit. Poesie kann von einer sehr ungewöhnlichen Wirksamkeit sein, aber ihre Kraft entstammt der Erkenntnis der menschlichen Zerbrechlichkeit. Ich für meinen Teil habe meine eigene Zerbrechlichkeit zur Waffe gemacht, um den Stürmen der Geschichte die Stirn zu bieten... Die Verzweiflung bringt den Dichter Gott näher, bringt ihn zurück zur Genesis des Schreibens, zum ersten Wort. Sie straft die Zerstörungsmacht des Siegers Lügen, denn die Sprache der Hoffnungslosigkeit ist stärker als die der Hoffnung. Das Wort Trojas ist noch nicht gesprochen worden, und die Poesie ist der Beginn des Wortes... Die Poesie ist immer eine Suche nach dem, was noch nicht gesagt worden ist."

(Mahmoud Darwisch, Palästina als Metapher, Gespräche über Literatur und Politik, Palmyra-Verlag, Heidelberg 1998)

Mahmoud Darwisch: Strophen/Fragmente

aus einem noch unveröffentlichten Gedicht,
das er im Januar 2002 in Ramallah schrieb:

Eine Frau sprach zur Wolke: bedecke du meinen Geliebten,
Denn meine Kleider sind durchnässt von seinem Blut. 1)

Wenn du nicht Regen bist, meine Liebe,
Sei Baum
Gesättigt von Fruchtbarkeit, sei Baum
Wenn du nicht Baum bist, meine Liebe,
Sei Stein
Gesättigt von Feuchtigkeit, sei Stein
Wenn du nicht Stein bist, meine Liebe,
Sei Mond
Im Traum der Geliebten, sei Mond
So sprach eine Frau zu ihrem Sohn, als er begraben wurde. 2)

Die Seele muss vom Reittier steigen
Und gehn auf ihren Seidenfüßen
Mir zur Seite, Hand in Hand, wie zwei Freunde
Seit langer Zeit, die sich das alte Brot teilen
Und das Glas alten Weins,
Dass wir zusammen diesen Weg gehen
Bis unsere Tage verschiedene Richtung nehmen:
Ich, jenseits der Natur; was sie betrifft,
Wird sie es vorziehen, sich auf hochragendem Felsen
niederzuducken. 3)

Auf meinen Trümmern wächst grün der Schatten,
Und der Wolf döst auf der Haut meiner Ziege.
Er träumt wie ich, wie der Engel
Dass das Leben hier ist ... nicht dort unten. 4)

Im Zustand der Belagerung wird die Zeit zum Raum,
Versteinert in ihrer Ewigkeit. 5)

Oh, Wachen! Seid ihr es denn nicht müde
Dem Licht aufzulauern in unserem Salz
Und dem Weißglühen der Rose in unserer Wunde
Seid ihr es denn nicht müde, ihr Wachen? 6)

Friede sei mit ihm, der mit mir die Erwartung teilt
Die Trunkenheit des Lichts, das Licht des Schmetterlings in
Der Schwärze dieses Tunnels. 7)

aus : "Le Monde Diplomatique", April 2002
in französischer Übersetzung aus dem Arabischen (Palästinensischen)
von Salma Ben Abda und Hassan Chami
aus dem Französischen ins Deutsche übertagen von Klaus Huber

komponiert in:
1) in deutsch und arabisch
2) arabisch, Titel "TRICINIUM" (Plainte)
3) arabisch, Titel "QUADRUPLUM"
4) die ersten drei Verse in deutsch, die letzten zwei in arabisch
5)-7) in arabisch

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Klaus Huber