"sowon...borira"
In unseren fernöstlichen Kulturen hat die Singstimme seit jeher Heimatrecht in allen jenen Formen von Dichtung, die das Hinnehmen des Schicksals besingen, episch in PANSORI, lyrisch in GAGOK.
Demgegenüber ist die lyrische Dichtung Europas seit dem klassischen Altertum auf ein existentielles Ich bezogen, das mit dem eigenen Schicksal umgeht, um zu sich selbst zu finden. Mein Herz ist in meiner Musik Metapher der Seele, die im Kreislauf von Geburt, Liebe, Trauer, Tod das Überlebende beschwört. Anna Achmatowa: Es überlebt: das königliche Wort. Rose Ausländer: Die Erde gibt mir ein geheimes Zeichen und sagt ade – ich antworte – auf Wiedersehen. Louize Labé: Ainsi Amour inconstamment me meine.
Mein Wunsch: die Fremdheit in der fremden Sprache zu überwinden. Die Musik: ein nie ganz Faßbares, nicht Festzuhaltendes – immer ein Wandelbares, Fließendes, wie ne ma- un, Mein Herz. Jede lyrische Sprache ist mir Laut der Seele, aus lautlosem Klang geboren. Jede Zeile breitet einen Fächer von Möglichkeiten aus. Darin spiegelt sich ein Unvergängliches: der Wunsch, zu überwinden.
Das Fließende aufnehmen bedeutet nach Lao-Tse Stärke. Liebe als das Einzige, welches die begrenzte Existenz zu verwandeln, in andere Formen, Gestalten zu gießen vermag. – Fließendes als Bleibendes. So bleibt auch die Trauer, aus ihr entspringt die Kraft des neuen Frühlings. Denn nur restlose Hingabe kann die Welt verändern. Wenn das Saatkorn nicht stürbe, gäbe es weder Reis noch Brot. Zum Titel "sowon... borira"
Die Fähigkeit des Wünschens wird heute immer mehr durch das zielstrebige Inbesitzbringen des gewünschten Gegenstandes lahmgelegt. Der unerfüllte Wunsch (sowon) hingegen öffnet das Bewußtsein für die Dimension des Möglichen, des Noch-Nicht. Mit borira (in der koreanischen Sprache die Wunschform: "ich hätte gern, ich möchte..."), möchte ich an die Notwendigkeit unerfüllter, vielleicht sogar unerfüllbarer Wünsche erinnern. Der eine, bleibende Wunsch: einen inneren Raum schaffen, der sich gegen äußere wie innere Bedrängnis behauptet.
Dieses Werk basiert auf meiner Komposition sowon/Wunsch für Frauenstimme und zehn Instrumente, die zu den Wittener Tagen für neue Kammermusik 1996 uraufgeführt wurde.
Texte
NE Ma-UM (mein Herz)
Gold rostet, Stahl verwest zu Staub, Marmor
zerbröckelt. Alles ist bereit zum
Tod. Am dauerhaftesten auf Erden ist
die Trauer. Es überlebt: das
königliche Wort.
Anna Achmatowa
NE MA-UM (mein Herz)
wandelbar
Orte wandelbar
in der Zeit
die alles namhaft macht
unbehauste Worte
vergessene
ungedachte
Noch eine Zeile
ein Wort
eine Silbe
ein Buchstabe
ein Punkt
Meine Ahnen
waren unbescholten
Ich habe den Tau
ihrer Tränen
geerbt
Rose Ausländer
Gold rostet,
Stahl verwest zu Staub
Marmor zerbröckelt
Gold rostet
Anna Achmatowa
Die Erde
gibt mir
ein geheimes Zeichen
und sagt ade
Ich antworte
auf Wiedersehen
Rose Ausländer
NE MA-UM (mein Herz)
rostetverwest zu Staubzerbröckeltrostet
Anna Achmatowa
STATT EINES NACHWORTS
Doch dort, wo man die Träume dichtet.
Hats zu verschiedenen für uns nicht gereicht.
Wir träumten einen - doch in ihm lag leicht
Die Kraft des Frühjahrs, die das Eis zerbricht.
Anna Achmatowa
Quellen:
Alle Gedichte von Anna Achmatowa: in: "Gedichte", Nachdichtung von Rainer Kirsch Frankfurt a. M., Suhrkamp Verlag 1988
Alle Gedichte von Rose Ausländer in: "und preise die kühlende Luft der Linde", Gedichte 1983 - 1987, Geammelte Werke, Bd. 7. hrsg. von Helmut Braun, Frankfurt a. M., Fischer-Verlag 1988
Louize Lahé (Lyoneserin 16. Jd.) in: "Die vierundzwanzig Sonette" übertragen von Rainer Maria Rilke Insel Verlag
- Festivaljahrgänge
- Donaueschinger Musiktage 1998
- Themen in diesem Beitrag
- Younghi Pagh-Paan, SOWON...BORIRA für Sopran und Orchester
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