Harriet Cohen war eine bedeutende Pianistin des 20. Jahrhunderts, ist aber heute beinahe völlig vergessen. Sie ist immer wieder in einer illustren Runde gelandet: Mit Albert Einstein als Geiger hat sie im Duo gespielt oder war mit der First Lady Eleanor Roosevelt befreundet. Außerdem hat sie Pablo Picasso geärgert.
Harriet Cohen: Keine Angst vor großen Namen
Harriet Cohen sagt Pablo Picasso direkt ins Gesicht, dass sie die Bilder von Henri Matisse liebt, seinem Konkurrenten. Sie sagt geradeaus, was sie denkt. Und das nicht erst, als sie international als Pianistin gefeiert wird, sondern schon als junge Studentin.
Sie ist selbstbewusst und lässt sich von großen Namen wie Picasso nicht einschüchtern. Auch nicht vom berühmten Komponisten Manuel de Falla. Als der für ein Konzert nach London kommt, blättert sie ihm die Noten um – und behält auch hier ihre Meinung nicht für sich.
„Das ist ja eine Art Gitarrenmusik!“, sagt sie unter anderem zu ihm, sodass das ganze Orchester und der Dirigent völlig entsetzt geguckt habe.
Selbstbewusstsein zahlt sich aus
Manuel de Falla nimmt ihr die Kritik nicht übel und fragt sie sogar, ob sie die nächste Aufführung selbst spielen möchte. Ein Schlüsselmoment für Harriet Cohen. Ihr selbstbewusstes Auftreten hat sich ausgezahlt. Sie wird schließlich zu einer der wichtigsten Pianistinnen, die seine Musik spielen.
Die Leidenschaft und Energie, mit der Harriet Cohen Klavier spielt und auf die Bühne geht, begeistert alle: Komponisten, Zuhörerinnen und Zuhörer, Politikerinnen und Politiker. Die englischen Medien stürzen sich auf sie, schreiben und fotografieren sie.
Erfolgreiche Imagepflege
Zeitweise ist sie in Großbritannien die Musikerin, die am häufigsten fotografiert wird und über die am meisten geschrieben wird. So ein Image ist wichtig für eine erfolgreiche Karriere – erklärt Melanie Unseld, Professorin für Musikwissenschaft in Wien.
Repertoire aus der Barockzeit und viel Modernes
Harriet Cohen entscheidet sich häufig für relativ kurze Kleider mit Ausschnitt, Schuhe mit Absätzen und dafür, die Haare zusammen zu binden. So geht sie auf die Bühne, oft mit gutem, altem Repertoire aus der Barockzeit. Neben Johann Sebastian Bach spielt sie auch die Engländer: Musik von William Byrd, Henry Purcell - oder Orlando Gibbons.
Harriet Cohen spielt auch viel Modernes. Sie ist oft die Erste, die das Neuste aus Russland, von Dmitri Schostakowitsch oder Dmitri Kabalewski, nach England bringt. Ralph Vaughan Williams schreibt extra für sie sein einziges Klavierkonzert.
Macht sich stark für Frauenrechte
Harriet Cohen nutzt ihr Promi-Dasein, um Gutes zu tun. Sie sammelt Geld mit Konzerten und zapft ihre Kontakte bis in die höchsten politischen Kreise an, um vor allem jüdische Intellektuelle aus Nazi-Deutschland rauszuholen und nach Großbritannien zu bringen.
Und: Sie nimmt sich neben all den Konzerten und Proben auch noch Zeit, sich für die Rechte von Frauen stark zu machen. Schließlich übernimmt sie sogar das Amt der Vizepräsidentin der „Women’s Freedom League“.
Proteste ja, aber ohne Gewalt, ist das Credo. Die „braunen Frauen“, benannt nach den braunen Mänteln, die das Erkennungszeichen sind, starten Aktionen: Weigern sich Steuern zu zahlen, kritisieren die Regierung, auch über eine eigene Zeitung; so machen sie auf sich aufmerksam.
Tragisches Missgeschick unterbricht Karriere
Harriet Cohen kämpft da, wo es nötig ist, wo sie sich einbringen kann. Sie spannt geschickt ihre Netze, baut ihre Karriere auf und pflegt ihre Freundschaften.
Doch dann geschieht ihr ein unglückliches Missgeschick mit fatalen Folgen. Harriet Cohen verletzt sich an einem zerbrochenen Brillengestell. Das kaputte Glas durchtrennt die Arterie ihrer rechten Hand. Klavierspielen geht nicht mehr und das für einige Jahre.
Ein Concertino für die linke Hand allein
Ihr Liebhaber, der Komponist Arnold Bax unterstützt sie, so gut er kann, finanziell. Und: Er schreibt ihr ein Concertino für die linke Hand allein. Es soll sein letztes bedeutendes Stück sein.
Harriet Cohen wohnt in einer Villa in London, die Bax für sie gekauft hat. Glücklich wird sie aber erst wieder, als ihr Arm verheilt ist und sie endlich wieder Klavier spielen kann.