Satire

Abzweige – Ein elektronisches Stück von Debussy

Stand
Autor/in
Michael Rebhahn

„Alternate History“ nennt sich ein Science-Fiction-Genre, das der Frage nachgeht: „Was hätte sein können, wenn?“ Wenn zum Beispiel Weltreiche nicht untergegangen wären oder Kriege andere Sieger hervorgebracht hätten. Auch wenn sie nicht ganz so tiefgreifend sein mögen, sind auch im Bereich des Musikalischen derartige Szenarien vorstellbar.

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Was wäre wenn?

Paris, 1917: Der erste Weltkrieg bestimmt das Tagesgeschehen, die Stimmung ist eher düster, aber das Musikleben der Metropole steht nicht still. Im Conservatoire, der Musikhochschule im 9. Arrondissement, bereitet sich der 19-jährige Student Maurice Martenot auf eine Klavierprüfung vor. In die Geschichte eingehen wird er allerdings nicht als Pianist, sondern als Konstrukteur eines elektronischen Instruments.

Davon ahnt er 1917 aber selbst noch nichts, denn die Elektronik sollte ihn erst sechs Jahre später zu interessieren beginnen, nachdem ihm der russische Erfinder Leon Theremin und sein gleichnamiges Instrument begegnet waren.

Aber wenn Martenot schon etwas früher mit Oszillatoren, Schaltkreisen und Filtern experimentiert und seine Erkenntnisse mit Komponisten in seinem Umfeld geteilt hätte — vielleicht wäre dann Folgendes passiert.

Unglaubliche Entdeckung in Paris

Bisher schien die Sache klar: Der Pionier der elektronischen Musik in Frankreich heißt Pierre Schaeffer. Seine Étude aux chemin de fer aus dem Jahr 1948 gilt als eines der ersten Stücke der sogenannten Musique concrète.

Pierre Schaeffer, 1974 in Paris
Pierre Schaeffer mag als Pionier der elektronischen Musik in Frankreich gelten, doch wie hätte es wohl geklungen, wenn Debussy den Anfang gemacht hätte?

Vor diesem Hintergrund bringt die Entdeckung, die vor Kurzem in einem Pariser Archiv gemacht wurde, die Musikgeschichte ins Wanken: Offenbar hatte schon drei Jahrzehnte vor Schaeffer ein nicht ganz unbedeutender Komponist mit elektronischen Klängen experimentiert.

 „Ein Handwerker hatte einen Schrank zur Seite gerückt und dahinter fand sich eine kleine Schachtel. Ich habe sie geöffnet und darin eine Phonographenwalze und ein vergilbtes Stück Papier gefunden. Als ich den Titel Petite pièce électronique gelesen habe, war ich sehr überrascht. Aber regelrecht verwirrt war ich, als ich las, von wem dieses Stück stammt: ‚realisiert von Claude Debussy, September 1917.‘“ erzählt Monsieur Victor.

Zusammenarbeit zwischen Debussy und Martenot

Das ungläubige Staunen ist Monsieur Victor noch immer anzumerken, als er uns von seinem sensationellen Fund berichtet: ein elektronisches Stück von Claude Debussy!? Doch bei aller Begeisterung: die Zweifel waren nicht weit. Kann ein solches Stück echt sein? Monsieur Victor begann zu recherchieren – und machte gleich die nächste erstaunliche Entdeckung.

„Natürlich habe ich erst einmal gedacht: Das kann nicht sein! Welches elektronische Instrument sollte Debussy denn zur Verfügung gehabt haben? Dann habe ich herausgefunden, dass er regelmäßigen Kontakt zu einem gewissen Maurice Martenot hatte. Eben jener Martenot, der 1928 die Ondes Martenot, das legendäre elektronische Instrument, patentieren ließ. 1907 hatte er offenbar bereits einen Prototypen entwickelt, den er dem technikbegeisterten Debussy vorführte. Dass der aber ein Stück dafür geschrieben und aufgenommen hat: Das ist unglaublich!“ – Monsieur Victor.

Ein visionärer Komponist und ein ebensolcher Erfinder. Dass sie sich getroffen hatten, liegt völlig im Rahmen des Möglichen, wurde aber bislang nie in Betracht gezogen. Jetzt ist die Sachlage eine andere: Debussy und Martenot hatten sich nicht nur gekannt, sondern intensiv zusammengearbeitet.

Testament Debussys

„Beim ersten Hören erscheint das Stück seltsam: sprunghaft, fast konfus. Es klingt, also ob ständig neue Ideen ausprobiert werden – und ich glaube, genau das ist der Fall. 1917 war Debussy todkrank; und da kam Maurice Martenot mit seinem neuartigen Instrument. Natürlich wollte Debussy alles auf einmal ausprobieren, wollte wissen, welche Möglichkeiten das Instrument bietet. Deshalb enthält dieses kurze Stück so viel.“ meint Monsieur Victor.

In Monsieur Victors Archiv herrscht seit dem unverhofften Fund Hochbetrieb. Zahlreiche Debussy-Experten haben sich das Stück inzwischen angehört. Einige blieben skeptisch, andere sind völlig fasziniert. Der Entdecker selbst gehört eindeutig zu den Begeisterten: für ihn ist das Petite pièce électronique eine epochale Entdeckung.

„Es mag übertrieben klingen, aber letztlich könnte man das Petite pièce électronique als Summe von Claude Debussys Schaffen verstehen: Als Testament eines durch und durch fortschrittlichen Künstlers.“

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