Niemand erklärt die Philosophie des 20. Jahrhunderts spannender als Wolfram Eilenberger. Nach „Zeit der Zauberer“ und „Feuer der Freiheit“ schildert er in „Geister der Gegenwart“ die philosophische Entwicklung der Nachkriegsjahrzehnte bis zum Tod von Michel Foucault, 1984. Das persönlichste Buch von Wolfram Eilenberger, ein flammendes Plädoyer für das Denken – anstelle von Gedankenschubladen.
Was hat Tennis mit Philosophie zu tun? Natürlich nicht viel. Das gilt auch für die „Geister der Gegenwart“, das neue Buch von Wolfram Eilenberger. Tennis bleibt hier zunächst eine biographische Klammer.
Eine Tennispartie als Symbol für die philosophischen Debatten des 20. Jahrhunderts
Der Autor erinnert sich an den 10. Juni 1984, als sich Ivan Lendl und John McEnroe im Finale von Paris gegenüberstehen. Als Junge hält Eilenberger McEnroe die Daumen, während zur selben Zeit auch Michel Foucault dieses Spiel schauen möchte.
Doch der berühmte Philosoph liegt bereits todkrank in der Pariser Universitätsklinik. Statt das Match zu verfolgen, muss er eine Untersuchung über sich ergehen lassen.
Genialität oder Schema: John McEnroe oder Ivan Lendl?
Zwei Wochen später ist Michel Foucault tot. Nach Eilenbergers Zeitrechnung endet damit eine Epoche, die von 1948 bis 1984 reicht und in der es eben doch um etwas ähnliches geht wie im Duell zwischen Lendl und McEnroe: um Kontrolle oder Genialität, um Idee oder Schema.
Baut sich die Philosophie starre Gedankengebäude, in denen sie langsam versumpft? Oder betreibt sie mit Kant einen neuen Versuch der Aufklärung? Befreit sie sich aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit, die darin besteht, Philosophie akademisieren zu wollen, Gedanken lediglich wiederzukäuen, die andere vorgekaut haben?
Die Helden von Wolfram Eilenberger: Susan Sontag, Foucault, Feyerabend und Adorno
Vor dieser Alternative sieht Eilenberger die Philosophie. Und seine Helden sind deshalb andere, als man sie vielleicht erwarten würde. Sie gehören nicht zu den großen Schulen des Zeitalters, zur Analytischen Philosophie, zur Phänomenologie oder zum Marxismus.
Eilenbergers Helden richten ihren kritischen Verstand gegen die Schule, gegen das Erstarren in festen Überzeugungen. Neben Michel Foucault die Publizistin Susan Sontag, der messerscharfe Paul Feyerabend und, natürlich, Theodor W. Adorno.
Ein Kampf gegen die großen Gewissheiten der Philosophie
Ihren Biografien folgt Wolfram Eilenberger, wirft Schlaglichter auf wichtige Ereignisse ihres Lebens, zeigt, wie sich ihre Gedanken mitunter verknüpfen, wie im Leben jedes der vier ein tieferes Bestreben sichtbar wird.
Er zeigt Michel Foucault in seinem Kampf gegen westliche Glaubensgewissheiten. Denn wer sagt eigentlich, dass Menschen fertige autonome Wesen seien? Wer glaubt sagen zu können, wer „der Mensch“ sei, gar welche geschichtliche Bestimmung er habe?
Die großen Gockel der Wissenschaftstheorie: Sie wissen, wie man richtig denkt
Eilenberger schildert aber auch Foucaults Naivität, sich in Paris vor den Karren der 68er-Revolte spannen zu lassen. Anders als Adorno, der begreift, dass seine Gedanken in der 68er-Zeit politisch instrumentalisiert und damit entwertet zu werden drohen.
Eine Kritik an einer Philosophie, die sich zum Ingenieur der Gesellschaft aufschwingen will. Eine Kritik auch an Adornos Erben, vor allem Jürgen Habermas, an den selbstgewissen Machern, über die sich Paul Feyerabend amüsiert: die großen Gockel der Wissenschaftstheorie, die genau zu wissen glauben, wie man richtig denkt, richtig forscht und richtig kommuniziert.
Susan Sontag liefert das Thermometer für den Zeitgeist des 20. Jahrhunderts
Diese Enge der Besserwisserei ist es, aus der sich Feyerabend, Foucault und Adorno befreien möchten. Von der Orthodoxie werden sie deshalb als Gegenaufklärer geziehen, sind aus Sicht von Eilenberger dagegen Aufklärer im besten Sinne.
Susan Sontag sticht hier besonders heraus. Als Publizistin, die diese Kämpfe radikal an sich selbst durchexerziert. Ihre Reisen und Reportagen liefern in diesem Buch das Thermometer für den Zeitgeist dieser Jahre und seiner wichtigen Orte, Berkeley und New York, Frankfurt und Paris.
Das wohl persönlichste Buch von Wolfram Eilenberger
Die „Geister der Gegenwart“ sind das wohl persönlichste Buch von Wolfram Eilenberger. Ein flammendes Plädoyer für die Philosophie, für das Denken – anstelle der Gedankenschubladen.
Fußnote: Am 10. Juni 1984 gewinnt Ivan Lendl im fünften Satz gegen John McEnroe. Disziplin und Kontrolle siegen über die Genialität. Eilenbergers Wink ist unübersehbar: Hoffentlich ergeht es der Philosophie nicht ebenso.