Würdigung

Zum 80. Geburtstag des großen Flaneurs und Träumers Wilhelm Genazino

Stand
Autor/in
Ulrich Rüdenauer

80 Jahre alt wäre Wilhelm Genazino am 22. Januar geworden: In seinen zahlreichen Romanen und Essays hat der Büchner-Preisträger die alltägliche Welt poetisiert und ein Psychogramm der Bundesrepublik verfasst. Kaum einem Autor gelang es auf so feinsinnige Weise, Schmerz in Komik und Banales in Philosophisches übergehen zu lassen. Auch sein Nachlass birgt Überraschungen.

Auf eines war immer Verlass gewesen: Mindestens alle zwei Jahre veröffentlichte Wilhelm Genazino in den letzten drei Jahrzehnten einen seiner schmalen Romane, in denen er seine flanierenden Helden der „Gesamtmerkwürdigkeit des Lebens“ aussetzte. Zwischendurch kamen Sammelbände mit klugen, blickweitenden Essays. Die Romane hatten poetische Namen wie „Der Fleck, die Zimmer, die Jacke, der Schmerz“ oder „Leise singende Frauen“ oder „Ein Regenschirm für diesen Tag“. Und auch die Essays zeigten schon durch ihre Titel, dass sie reine Literatur waren: „Der gedehnte Blick“, „Idyllen in der Halbnatur“ oder „Die Belebung der toten Winkel“. Kein Autor verstand es so genau, den seelischen Widersprüchen des modernen Stadtbewohners nachzuspüren, für jene zwischen Scham, Schmerz und Schauder oszillierenden Gefühle Bilder in unserer Alltagswelt zu finden.

Mit Genazino und seinen Figuren durch die Straßen austauschbarer Großstädte zu ziehen, bedeutete, die Dinge anders wahrzunehmen: In jedem Detail, in jeder absurden Szene, in jedem aufgeschnappten Dialog fand er etwas, das erzählt werden musste. Die Wirklichkeit wurde in seinen Büchern verzaubert. Und zugleich konnten die Figuren ihren melancholisierenden Lebensumständen niemals entkommen, nur ab und zu fanden sie Erleichterung in den Zwiespältigkeiten ihrer Gefühlswelten, und der Zwiespalt hatte immer auch etwas trostreich Komisches.

Alle zwei Jahre durfte man bei der Lektüre von Genazinos Büchern ein Glück in glücksfernen Zeiten erfahren – bis der Büchner-Preisträger am 12. Dezember 2018 in seiner Wahlheimatstadt Frankfurt verstarb. Nun, aus Anlass seines 80. Geburtstags am 22. Januar dieses Jahres, erscheint doch noch einmal ein Buch von ihm – ein großes noch dazu. „Der Traum des Beobachters“ heißt es, und es ist, wenn man so will, ein Lebensroman: Eine Auswahl seiner laufenden Notizen aus fast 50 Jahren, beginnend 1972, endend im Todesjahr 2018. Jan Bürger, der im Deutschen Literaturarchiv Marbach den Nachlass Genazinos betreut, und der Literaturwissenschaftler Friedhelm Marx haben eine Auswahl aus den 7000 Seiten starken Aufzeichnungen getroffen. 450 Seiten sind geblieben: Skizzen, Szenen, Beobachtungen, Aphorismen, Vorarbeiten zu Essays und Romanen, Überlegungen zu Autorenkollegen, Fundstücke, Zeitungsausschnitte und sogar ein paar Briefe finden sich in diesem Werktagebuch, das Genazino fast jeden Tag führte.

Von seinen Streifzügen durch die Stadt brachte er vollgeschriebene Zettel mit, die er dann sorgsam und schon überarbeitet per Schreibmaschine auf DIN-A4-Blätter übertrug. In einem Interview aus dem Jahr 2014 sagte Genazino:

Als Schriftsteller fühle ich mich, wenn ich mir was überlege und wenn ich was auf den Zettel schreibe, damit ich es nicht vergesse, nicht. Das ist sozusagen die erste Archivierung. Und da fühle ich mich als Schriftsteller. Aber wenn ich dann dasitze und das Ding in meine Mappen übertrage oder einen größeren Text aus einer bestimmten Anzahl von Notizen mache, dann fühle ich mich an der Schreibmaschine sitzend eher als Handwerker.

Die Aufzeichnungen dienten Wilhelm Genazino als Materialsammlung. Sie waren eine Möglichkeit, den Schreibfluss in Gang zu halten. Und der Gefahr vorzubeugen, die ihn lebenslang begleitete, eines Tages in einen Writer’s Block zu schliddern. Davor sollte ihn diese „Prothese des Schreibens“ schützen. Die Notizen waren nummeriert, mit Kürzeln versehen, und verwendete Genazino eine davon für einen Roman, wurden sie mit einem „v“ gekennzeichnet. Bürger und Marx unterscheiden nicht zwischen Stellen, die in Bücher Genazinos eingegangen sind und solchen, die lediglich im Werktagebuch vorkommen. In ihrem Nachwort zeigen sich die Herausgeber davon überzeugt, dass die Notate „unabhängig von den Kontexten, in die er sie schließlich einbettete, eine eigenständige aphoristische Qualität besitzen“. Diese haben sie in der Tat. So heißt es etwa in einem Eintrag vom 30. Oktober 1976 – Genazino war damals selbst Vater einer kleinen Tochter:

„Die eigenen Kinder sind Personen, zu denen man sich nicht normal verhalten kann. Entweder die Eltern sind übertrieben weich zu ihnen (aus Schuldgefühl) oder übertrieben streng (aus Angst), auf jeden Fall schlägt den Kindern von den Eltern immer irgendeine Übertriebenheit entgegen.“

Immer wieder zeigt sich in prägnanten Szenen jenes Umschlagen von existenzieller Verlorenheit in ein komisches Empfinden:

„Übrigens habe ich immer Angst. Neulich geschah es, dass ich aus Angst einige Bauarbeiter grüßte, die vor meinem Haus die Straße aufhackten; ich war wohl der Meinung gewesen, wenn ich die Männer grüßte, würden sie vielleicht davon absehen, mit ihren Hacken auch auf das Haus loszugehen.“

Das Unbehagen in der Gegenwart ist zuweilen auch ein Unbehagen an der Kultur. Genazino war neben allem anderen auch ein Zeitdiagnostiker und ein genauer Leser und Analytiker des eigenen Schaffens.

„Vielleicht hat Kunst nie etwas mit Gesellschaft zu tun gehabt; vielleicht war sie immer nur Ausdruck der Panik, dass man es immer nur mit sich selber zu tun hat.“

Jan Bürger und Friedhelm Marx stellen den einzelnen Jahreskapiteln immer eine rudimentäre biografische Notiz voran, die dem Leser eine gute Orientierung zur Hand gibt: über die jeweiligen Lebenssituationen, Arbeiten, Beziehungen oder Wohnorte, über Umwege, Zweifel und Erfolge. Sie führen in dieses imposante Werk hinter dem Werk ein. Immer deutlicher schälen sich lebensbegleitende Themen und Motive heraus. 1983 schreibt Genazino:

„Es fehlen große Aufsätze über Scham, Komik, Langeweile.“

Diese Aufsätze hat Genazino später geliefert. Und er hat seine ihn verfolgenden Themen – Scham und Schmerz, Melancholie und Verlust – in seinen Romanen auf höchst eigensinnige und fantastische Weise in Literatur verwandelt. Mit „Der Traum des Beobachters“ kann man einen Blick in die Werkstatt dieses bedeutenden Autors werfen. Und in seinem „Materialcontainer“ selbst große Kunst entdecken.

SWR2 lesenswert Feature Wilhelm Genazino und die Poetisierung der Welt

„In der Literatur – und nur in der Literatur – überlebt die Sehnsuchtswirtschaft des Menschen. Sie ist unsere palliative Heimat.“ Das sagte Wilhelm Genazino in seiner Dankesrede für den Büchner-Preis 2004, und diese Sätze gelten für seine eigene Literatur ganz besonders.

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Ulrich Rüdenauer