Buchkritik

Peter Stamm – In einer dunkelblauen Stunde

Stand
Autor/in
Wolfgang Schneider

Eine Dokumentarfilmerin porträtiert einen Schriftsteller, macht sich auf die Suche nach seiner Jugendliebe und findet ihre eigene Lebenskrise. Peter Stamms neuer Roman „In einer dunkelblauen Stunde ist zugleich auch ein raffiniertes Selbstporträt und zeigt eine Qualität, für die der Schweizer Lakoniker bisher nicht bekannt war: Humor.

Andrea, eine Dokumentarfilmerin um die Vierzig, hat sich für ihr neues Projekt ein scheues Wild ausgesucht: den erfolgreichen Schweizer Schriftsteller Richard Wechsler, der seit langem in Paris lebt. Dort sucht sie ihn mit ihrem Kamerateam auf. Es entstehen Bilder, wie man sie aus vielen Kultursendungen kennt: Ein Autor, der Boulevards und Uferpromenaden entlangschlendert, bedeutsam blickt und ein paar nachdenkliche Sätze sagt.

Das genügt Andrea nicht. Sie begleitet den Schriftsteller in sein unscheinbares Heimatstädtchen in der Schweiz. Bald kommt ihr dort manches vertraut vor aus seinen Büchern. Und sie verfolgt eine heiße Spur: Die Liebesgeschichten in Wechslers Romanen scheinen inspiriert von einer wirklichen Jugendliebe, die sich überraschenderweise als die amtierende Pfarrerin des Ortes entpuppt. Andrea nimmt Kontakt zu Judith auf, freundet sich an mit der offenherzigen Kirchendame, die inzwischen auch schon auf die Sechzig zugeht und erfreut scheint, ein vertrauenswürdiges Ohr für ihre Liebesgeschichte mit Wechsler gefunden zu haben. Von bloßer Jugendleidenschaft kann keine Rede sein.

Aber dass eine Pfarrerin, mit der man noch vor einer halben Stunde über Altarschmuck geredet hat, plötzlich Geständnisse über ihr Intimleben macht, ist schon speziell. Richard ist die Liebe meines Lebens, und ich bin die Liebe seines Lebens, mit der größten Selbstverständlichkeit und Selbstsicherheit sagte sie das. Und fast ein wenig trotzig. Es schien befreiend für sie zu sein.

Über die Jahre führte diese heimliche Liebe immer wieder zu Begegnungen, von denen Judiths Ehemann nichts wissen durfte. Die große Passion ist der Glutkern von Wechslers Werken. In Peter Stamms Roman leuchtet sie eher aus dem Hintergrund und wird erst allmählich enthüllt. Im Vordergrund steht der Alltag der Dokumentarfilmerin, der voller profaner Verstrickungen ist. Andrea lebt mehr recht als schlecht von der Förderung zumeist dann doch nicht realisierter Projekte. Ihre Beziehung mit Kameramann Tom hat Schlagseite; eine Affäre mit einem früheren Freund eröffnet auch keine Perspektive. Von ihren diversen Lebensmiseren pflegt sie sich mit Serienmördervideos abzulenken.

Dann bricht Richard Wechsler auch noch die Arbeit am Film ab. Das erneute Scheitern bedeutet das Ende von Andreas Karriere als Dokumentarfilmerin. Sie muss sich nach einem neuen Job umsehen:

Die Idee, Friedhofsgärtnerin zu werden, gab ich schnell auf, als ich sah, was die verdienen. Als Briefträgerin hätte ich morgens um fünf anfangen müssen, ein Killerargument für eine Nachteule wie mich.

Sie findet eine Stelle in der PR-Abteilung eines Unternehmens, wo sie – zuständig für das Sponsoring – nun die andere Seite des Kulturbetriebs kennenlernt. Sie muss routinemäßige Absagen auf die Flut von Anträgen zur Förderung von Kulturprojekten verfassen. 

Als Richard Wechsler dann nach kurzer, schwerer Krankheit stirbt, wird Andrea von Pfarrerin Judith auf eine heikle Reise eingeladen:

Sie hatte mich zehn Tage nach der Beerdigung angerufen und gefragt, ob ich mit ihr nach Paris fahren wollte. Sie wollte in Wechslers Haus.
„Du meinst einbrechen?“
„Ich habe immer noch den Schlüssel“, sagte sie.
Richard habe ihr gesagt, sie könne jederzeit kommen. So gesehen sei es kein Einbruch.

Gemeinsam durchstöbern die beiden Frauen das verlassene Haus nach Lebens- und Schreibspuren und umkreisen in immer vertraulicheren Gesprächen die schwer greifbare Person des Schriftstellers, der sie beide auf unterschiedliche Weise fasziniert. Und es zeigt sich, dass der kranke Autor zuletzt noch den Kontakt mit Andrea gesucht hat.

Richard Wechslers Werke sehen denen Peter Stamms zum Verwechseln ähnlich. Und auch das Gemälde auf dem Buchumschlag – ein Mann mit hochgekrempelten Hemdsärmeln und der Hand in der Hosentasche – zeigt unverkennbar Peter Stamm. Handelt es sich bei Wechsler also um ein Selbstporträt? Die Sache wird noch doppelbödiger, wenn man weiß, dass parallel zu diesem Roman ein Film mit dem mehrdeutigen Titel „Wechselspiel“ entstanden ist. Da geht es um ein Filmteam, das Peter Stamm beim Schreiben dieses Romans begleitet. Roman und Film bilden ein vertracktes Spiegelkabinett.

Muss man das bei der Lektüre wissen? Und ist die raffinierte Selbstreflexivität ein Vergnügen nur für eingefleischte Peter Stamm-Fans? Durchaus nicht. Der Roman ist für sich ein Meisterstück, und das spannendste an ihm ist gar nicht der Schriftsteller selbst, sondern die Figur der Ich-Erzählerin Andrea, mit ihrem erfrischenden, unverkünstelten Ton, changierend zwischen Scharfsinn und Banalität, herumirrrend im Chaos der Existenz:

Wenn man eine Weile gelebt hat, könnte man sich den Rest seines Lebens nur noch damit beschäftigen, wieder Ordnung zu machen, Formulare auszufüllen, Bankbelege abzulegen.

Während auf dem Buchmarkt Selbstermächtigungsprosa von Frauen boomt, lotet Stamm die Brüche und Untiefen weiblicher Identität aus. So ernst die Themen und Motive, so komödienhaft jedoch der Ton des Romans. Das ist erstaunlich. Kennt man Peter Stamm doch als Autor, der seinen Stil an der Lakonie amerikanischer Erzähler geschult hat. Genaue Beobachtung in kurzen, schmucklosen Sätzen. Psychologisiert wird nicht, Humor ist eher zu vermeiden. „In einer dunkelblauen Stunde“ ist nun ganz anders geschrieben. Es ist ein verspieltes Buch, labyrinthisch konstruiert, mit so viel Komik und Ironie wie bisher kein anderes Werk dieses Autors. Ein hintergründiges Lesevergnügen.

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