Buch der Woche

Ulrich Peltzer – Das bist Du

Stand
Autor/in
Jörg Magenau

Wie bildet sich Individualität heraus? Und was ist das überhaupt, dieses seltsame, schillernde, ungreifbare „Ich“? Ulrich Peltzer schreibt in seinem neuen Roman den Soundtrack der frühen 80er Jahre in West-Berlin - und zeichnet das Porträt eines jungen Mannes, der seine Individualität erst über das Schreiben gewinnt.

Er erinnert an die intellektuellen Diskurse, die den Erzähler und seine Generation prägten; an die Musik von Bob Dylan und den Doors, an die Bücher von Peter Handke und T.S. Eliot bis zu Theweleits „Männerphantasien“.

Der Roman ist mehr als nur autobiographisch

Der Schriftsteller Ulrich Peltzer, Jahrgang 1956, lebt schon seit den frühen 80er Jahren in Berlin, in West-Berlin vielmehr. Viele seiner Roman sind dort angesiedelt, so wie auch der neue Roman „Das bist du“.

Er führt in Peltzers Anfangszeit zurück, als er in Berlin Psychologie studierte. Obwohl er ein genaues Epochenbild zeichnet und von eigenen Erinnerungen ausgeht, sollte man vorsichtig sein, den Roman allzu schlicht autobiographisch zu lesen.

Der Ich-Erzähler spricht zu seinem jüngeren Ich

Jeder kennt dieses Gefühl beim Durchblättern alter Fotoalben oder beim Lesen von Briefen, die man vor langer Zeit geschrieben hat. Man kann sich zwar an diesen Menschen ganz gut zu erinnern, der einem da entgegenblickt. Und doch ist es ein seltsam Fremder, mit dem einen kaum noch etwas verbindet.

Dieses Staunen über die eigene, fern gerückte Existenz klingt bereits im Titel von Ulrich Peltzers neuem Roman an: „Das bist du“. So spricht der Ich-Erzähler zu sich selbst.

Der Erzähler ist doppelt vorhanden

Er ist also doppelt vorhanden: einmal als Erzählerstimme in der Gegenwart, die die Bruchstücke der Vergangenheit zu einem Bild zusammenfügt, vor allem aber als dieses ferne Du, das er einst gewesen ist. Doch wer war er denn? Und was davon ist real?

Aber vielleicht dachte ich das auch nur, dachte mir das so aus. Etwas, das man zu einem Bild dazuerfindet, um es sich zu erklären. Logik oder Psychologie. Dabei sich selbst ein unauflösliches Rätsel, eine Folge von Buchstaben, die kein sinnvolles Wort bilden. Das bist du.

Müßig also, die schlichte Frage nach dem autobiographischen Gehalt zu stellen. Ja, jedes Bruchstück, jeder Buchstabe, könnte so oder so ähnlich gewesen sein.

Ein Roman über die Herausbildung der Individualität

Peltzer war wie sein namenloser Ich-Erzähler in den frühen 80er Jahren Student der Psychologie in West-Berlin. Auch seine Diplomarbeit, über „Aspekte der Formierung bürgerlicher Individualität in der höfischen Gesellschaft“, kommt vor.

Dem Roman liegt ja im Grunde dieselbe Frage zugrunde, nur angewandt auf das eigene Leben: Wie bildet sich Individualität heraus, und was ist das überhaupt, dieses seltsame, schillernde, ungreifbare „Ich“?

So gibt es im gleichgebliebenen Erkenntnisinteresse also doch eine direkte Verbindung zwischen dem Du von einst und dem Ich von jetzt.

Was wäre denn geworden? Oder gewesen? Hatte ich jemals eine fest umrissene Vorstellung von mir selbst gehabt. Als besäße ich sie heute und sei nicht der Trödler, der ich wahrscheinlich schon immer war. Mit der Rechtfertigung heute, ich würde einen Roman schreiben, noch ein Jahr und noch eins, um dann wieder von vorn anzufangen. Tut nicht jeder und jede recht daran, mir nicht zu vertrauen? Ich mir selber, Wort für Wort, als könne keines meiner Worte so wahr sein, wie es die Wirklichkeit einmal gewesen ist.

Mit hohem Tempo und raschen Schnitten zeichnet Peltzer das Bild seiner Epoche nach

Ulrich Peltzers Ich-Erzähler als Alter Ego zu bezeichnen, trifft die Sache also nicht ganz. Zunächst und vor allem geht es darum, die damalige Epoche zwischen Punk und Pop, sehr vielen Drogen, Kneipenbesuchen und einer drängenden Lust an der Theorie, an Kino, Literatur und Musik zum Klingen zu bringen.

Das gelingt Peltzer durch hohes Tempo, rasche Schnitte, eine fragmentierte, filmische Erzählweise und das Aufbrechen der Chronologie. Die Erinnerungen stellen sich ein wie Scherben: beliebig, fragwürdig, und mit scharfen Kanten.

So entsteht ein Soundtrack der frühen 80er Jahre. Oder vielmehr: Peltzer rekonstruiert das „Gewebe des Lebens“, wie er das nennt. Eindrucksvoll macht er deutlich, dass das „Ich“ kein geschlossener Kokon ist, sondern all das umfasst, wovon es umgeben wird, was es aufnimmt, hört, liest und bedenkt.

Und dann gibt es da noch die Liebesgeschichte mit Leonore

Ob Ian Dury oder Joe Jackson, Dylan oder die Doors, ob Bücher von Handke, Pavese, Rolf Dieter Brinkmann oder T.S. Eliot, ob Theweleits „Männerphantasien“ oder der „Anti-Ödipus“, dem der Erzähler in einer Lesegruppe zu Leibe rückt: All das sind intellektuelle Generations-Erfahrungen.

Nicht nur Hintergrund oder Begleitmusik einer Biographie, sondern zentrale Erfahrungen dessen, der da zu sich sagt: „Das bist du“.

Selbst die Liebesgeschichte mit einer Frau namens Leonore, die dem Roman über all diese Einzelheiten hinaus eine wenn auch fragmentarische Handlung gibt, ist durchaus typisch: in ihrer Sehnsucht nach dem großen Glück und einer dann doch irgendwie bürgerlichen Liebesgemeinschaft ebenso wie in ihrem Scheitern und dem nicht zu bewältigenden Schmerz.

„Das bist du“ ist das Porträt eines werdenden Schriftstellers

Wer hat das so oder so ähnlich in diesem Alter nicht erlebt? Individualität gewinnt der Erzähler erst im Schreiben. Der Wunsch, sein Dasein in Sprache zu verwandeln, rettet ihn aus seiner mäandernden Unbestimmtheit.

„Das bist du“ ist das Porträt eines werdenden Schriftstellers, des Künstlers als junger Mann. So wie er das Kino als einen Ort der Befreiung und der Erkenntnis erlebt – er arbeitet, und auch das ist autobiographisch, als Kartenverkäufer in einem Kreuzberger Programmkino –, so erlebt er auch sein Schreiben als Aufbruch oder mehr noch als:

[…] Offenbarung dessen, was ein Mensch sei. Dafür einen Ausdruck zu finden, durch jede Gegenwart hindurch, mit den Mitteln der Gegenwart, war das nicht Kunst?

Die Vergangenheit möchte er kalt und nüchtern betrachten

Genau diese Offenbarung sucht Peltzer in „Das bist du“. Die Frage: Was war ich – und warum so? mündet in die größere, immer wieder neu und nur individuell beantwortbare Frage: Was ist der Mensch?

In einem langen Gespräch mit dem Berliner Literaturwissenschaftler Joseph Vogel in der neuesten, Ulrich Peltzer gewidmeten Ausgabe der Zeitschrift „Text und Kritik“ wehrt Peltzer sich gegen den Begriff der Sentimentalität.

Zwar stimmt er durchaus zu, dass es ihm darum gehe, im Erzählen „Empfindungen intelligent“ und umgekehrt „Begriffe empfindsam“ zu machen. Die Vergangenheit aber möchte er kalt und nüchtern betrachten, als einen offenen Möglichkeitsraum. Denn alles – und also auch das eigene Ich – hätte ja auch ganz anders werden können.

Das Berliner Lebensgefühl der damaligen Zeit klingt an

Ein schöner, die damalige Zeit-Stimmung gut zusammenfassender Begriff fällt in diesem Gespräch auch noch: Bezogen auf das eingemauerte West-Berliner Inseldasein spricht Vogel von einer „Dramaturgie des Aufschubs“.

Gemeint ist das spezifische Berliner Lebensgefühl der 80er Jahre, dass es zwar durchaus eine Zukunft gab, dass man aber so tat, als müsse man sich nicht darum kümmern und lebe in ewiger Gegenwart.

Vielleicht ahnte ich, vielleicht war es auch eine Befürchtung, dass es nicht ewig so bleiben würde, dass ich mich irgendwann für eine Sache zu entscheiden hätte.

Der junge Mann von damals ist zu einem guten Schriftsteller gereift

Peltzers raffinierte Volte besteht darin, aus dieser undefinierten Zukunft heraus zu erzählen. Dieser Punkt bleibt unbestimmt. Wir wissen nicht, was aus dem jungen Mann von damals inzwischen geworden ist.

Wir dürfen jedoch vermuten, dass er zu einem ernsthaften, wirklich guten Schriftsteller gereift ist. Wie könnte er sonst so präzise all das Unerfüllte, das Schöne, das übrig gebliebene Hoffnungspotential der damaligen Zeit herausarbeiten.

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Autor/in
Jörg Magenau