Buchkritik

Thomas Melle – Das leichte Leben

Stand
Autor/in
Carsten Otte

Thomas Melles Roman „Ein leichtes Leben“ möchte ganz viel zugleich sein: Eheroman, Thesenroman, Zeitgeistroman, Medienroman, Missbrauchsroman. Die ehemalige Schriftstellerin Kathrin und der erfolgreiche TV-Journalist Jan waren mal glücklich verheiratet, jetzt suchen beide ihr Glück in Affären mit deutlich Jüngeren, auf Sexpartys und im Bordell. Wie immer liegt die Begründung für das Scheitern ihrer Lebensentwürfe in der Vergangenheit. Der Roman aber kommt über Plattitüden nicht hinaus.

Kathrin: einst gehypte Schriftstellerin, nun Gymnasiallehrerin - Jan: früher im Kulturfernsehen, jetzt im Boulevardformat

Die Figurenkonstellation ist denkbar einfach gestrickt: Es war einmal ein glückliches Paar, nämlich die einst gehypte Schriftstellerin Kathrin, die nun als Gymnasiallehrerin arbeitet, und der TV-Journalist Jan, der früher im Kulturfernsehen und jetzt in einem Boulevardformat zu sehen ist.

Zwei Kinder haben die beiden, Lale und Severin. Der anstrengende Alltag mit den pubertierenden Kids und jede Menge Frust im Job sorgen dafür, dass es in der Familie Drescher gar nicht gut läuft. Sprach- und Lieblosigkeit prägen das Miteinander; sexuell läuft nur wenig bei den Eheleuten, sodass Jan mit einer Praktikantin zu flirten beginnt und Kathrin an einer Orgie teilnimmt, die zunächst nicht nur wegen der albernen Masken der Besucher enttäuscht.

„Zwischen der Vorstellung einer Sexparty und deren Wunscherfüllung lagen Welten. Sex war immer nur eine schlechte Kopie der ihm vorgeschalteten Fantasien; das kannte sie schon von Jan, das kannte sie von den meisten seiner Vorgänger; das kannte sie von sich.“
Aus Thomas Melle: Das leichte Leben

Der Erzähler offenbart die Gedankengänge aller Charaktere

Mit erregenden Fantasien hat Melles Roman „Das leichte Leben“ ohnehin wenig zu tun, eher mit jenen schlechten Kopien in der sexualisierten Welt, die grell ausgeleuchtet werden, auf dass nun wirklich jedes Geheimnis einer Figur verschwindet. Schon mit den ersten Szenen wird deutlich, dass der Erzähler, der die Gedankengänge aller Charaktere offenbart, keine Scham kennt.

„Sie (…) zog den Schwarzen näher an sich heran, wuchtete seinen Schoß gegen ihren, immer härter, immer schneller, und er antwortete, wurde krasser und grober und größer, stampfte, verzögerte, rammte sich gegen und in sie. Gleichzeitig blies und rieb sie den Teufel, funktional und gierig und geil, nahm ihn dann aus dem Mund, um zu winseln und zu hecheln und ihre Zunge zu zeigen (…).“
Aus Thomas Melle: Das leichte Leben

Die Sexparty endet für Kathrin immerhin mit einem Orgasmus, und zwar „mit einem Laut zwischen Bellen und Stöhnen, den Teufel tief im Mund, den Schwarzen hart im Schoß“, wie es in Melles Pornoprosa heißt.

Was hat der in seiner offensichtlichen Provokation so brave Text zu bieten?

Damit stellt sich nach wenigen Seiten die Frage, ob der in seiner offensichtlichen Provokation so brave Text noch etwas zu bieten hat, was über den detailliert beschriebenen Austausch von Körperflüssigkeiten und einer merkwürdig uninspirierten Reflexion hinausgeht, die sich mit Stanley Kubricks „Eyes Wide Shut“ befasst.

Zunächst schwelgt der Erzähler mit seinem Protagonisten in der Vergangenheit. Jan erinnert sich an den supermagischen Moment, als Kathrin in sein Leben kam, und zwar in Sätzen, die erneut zwischen intellektueller Pose und sprachlicher Peinlichkeit oszillieren.

„Die Realität hatte ein neues Terrain aufgespannt, einen neuen Raum eröffnet, der einen Gang zur Zukunft wies. (…) Sie hatten einander gesehen, beobachtet und erkannt, da auf dem Tanzboden der Träume und Traumata, und waren dann miteinander abgestürzt in höchste Höhen. (…) Und so trafen sie sich zu genau dem richtigen Zeitpunkt zwischen Fallenlassen und Fallen.“
Aus Thomas Melle: Das leichte Leben

Nun könnte das Buch zur Seite gelegt werden, doch immerhin passiert noch einiges, über das sich berichten lässt, selbst wenn das den Roman nicht besser macht. Jan wird mit kompromittierenden Fotos aus Schulzeiten erpresst, die ein übergriffiger Pater namens Stein aufgenommen hat.

Wie hängen die Beschreibungen des Missbrauchs durch Pater Stein mit den zahlreichen Erzählsträngen zusammen?

Während Jan unter allen Umständen verhindern möchte, dass er in der Öffentlichkeit als Opfer wahrgenommen wird, fordern seine Mitschüler, die in dem katholischen Internat ebenfalls belästigt worden sind, eine Aufarbeitung der Fälle. Den Bildern im Kopf, die den Fernsehmoderator nun wieder quälen, kann er ohnehin nicht entkommen.

„Stein vor der Dusche, nackt, wie jeden Tag. Er sitzt da mit seinem Penisprügel, und man kann nicht erkennen, ob das eine halbe Erektion ist, aber wahrscheinlich schon. Wir kennen uns da nicht so aus. Es ist faszinierend und macht Angst. Am Ende spritzt er uns kalt ab und hat ein irres Vergnügen dabei.“  
Aus Thomas Melle: Das leichte Leben

Was diese Passagen abgesehen vom Inhalt so verstörend macht, ist der drastische Tonfall, der sich von anderen Abschnitten, die eher Alltägliches verhandeln, nicht wesentlich unterscheidet.

Ohnehin stellt sich die Frage, wie die Beschreibungen des Missbrauchs mit den zahlreichen Erzählsträngen zusammenhängen und ob die angedeuteten Verbindungslinien wirklich erhellend sind.

Kathrin verliebt sich nämlich in ihren minderjährigen Schüler Keanu, der es zunächst auf ihre Tochter Lale abgesehen hat. Ist die Lehrerin, die den Jungen verführt, auch nicht besser als der notgeile Pater Stein? Selbst wenn auch Keanu in Kathrin verknallt ist. Die Antwort wird bewusst offengehalten, was zu einem äußerst widersprüchlichen Effekt führt: Einerseits wird in „Das leichte Leben“ fast alles thesenhaft auserzählt, andererseits bleibt der Text an entscheidenden Stellen allzu vage.

Die Genres wechseln: Eheroman, Coming-of-Age-Story, Essay, Skript zu einem ARD-Themenfilm

Hinzukommt ein ständiger Wechsel der Genres. Mal liest man einen wenig originellen Eheroman, dann wieder hat man es mit einer klassischen Coming-of-Age-Story zu tun. Mal wirkt das Buch wie ein böser Essay gegen restbürgerliche Konventionen, dann meint man das Skript zu einem ARD-Themenfilm in den Händen zu halten, der sich mit der Sexualisierung der Gesellschaft befasst.

Alle Erzählfetzen sind lose mit der Missbrauchsmaterie und der Frage nach den Folgen von Gewalt in Abhängigkeitsverhältnissen verbunden. Schließlich handelt es sich um ein parodistisches Portrait des Literaturbetriebs, denn Kathrins Keanu-Obsession führt dazu, dass sie endlich wieder zu schreiben beginnt.

Kathrin beginnt wieder zu schreiben: „Lolitus“ nennt sie ihr neues Buch

Ihr neues Buch ist natürlich eine Art Autofiktion, wobei nur wenig fiktiv zu sein scheint. „Lolitus“ nennt sie das Buch, das von ihrer verbotenen Liebe zu Keanu handelt, der als leidenschaftlicher Computerspieler derweil überlegt, die aufgestaute Wut in einem Amoklauf münden zu lassen.   

„Ein Zeichen setzen, Gutes durch Schlechtes tun, Rache üben, und nicht nur für sich. Man hat das gesehen, wo man da langgehen muss, wenn man in eine Schule geht mit einem Tarnanzug an und einer Pumpgun in der Hand. (…) Und es knallt, es knallt zum Himmel hoch, dass sie aus allen Wolken fallen, und Blut fließt, und Krach kracht, und Tat kommt, wird getan, wird Attentat, und am Ende des Weges sitzt dann der Endgegner da, letztes Level, und wer ist das, (…) ist es Lale, nie, ist es Kathrin Drescher, vielleicht, ist es Jan Drescher, vielleicht, ist es Direktor Rupp, bestimmt (…).“
Aus Thomas Melle: Das leichte Leben

Sprachliche Überforderung angesichts von sprachlos machenden Erfahrungen ist wohl das zentrale Stilmittel des Romans

Seltsam hilflos wirkt diese absichtlich rumpelig angelegte Rollenprosa. Sprachliche Überforderung angesichts von sprachlos machenden Erfahrungen ist wohl das zentrale Stilmittel des Romans. Doch selbst Melles Rumpfästhetik verfehlt ihre Wirkung schon bald, zu oberflächlich werden die einzelnen Themenfelder behandelt, zu lieblos und betont klischiert sind die Figuren gezeichnet. Insbesondere anhand von Jans Schicksal zeigt sich das Versagen der Erzählstrategie.

Nach dem dezidiert autobiographischen Text „Die Welt im Rücken“ könnte Thomas Melle nach eigenen Missbrauchserfahrungen gefragt werden, immerhin hat er das katholische Internat Aloisiuskolleg in Bonn-Bad Godesberg besucht, das 2010 in die Schlagzeilen geriet, weil ehemalige Schüler über zahlreiche Fälle von sexuellem Übergriffen durch Lehrer aus dem Jesuitenorden berichteten.

Die Vorfälle sind ein ernstes Thema, das der Schriftsteller Anselm Neft sehr behutsam in seinem Roman „Die bessere Geschichte“ aufgriff. Bei Melle jedoch wird der Stoff in einen Geschichtenbrei gerührt, der leider auch noch damit überwürzt wird, dass zwei Missbrauchsopfer sterben und eine suspendierte Lehrerin sich mit ihrem jungen Lover ausgerechnet in Venedig trifft.

Ein Buch, das nun wirklich in jeder Hinsicht gescheitert ist

Nicht nur angesichts der vielen aufdringlichen Verweise zu Thomas Mann, Arthur Schnitzler und Vladimir Nabokov ist man dann doch erstaunt, was im beigelegten „PresseInfo“ des Verlags geschrieben steht: „Thomas Melle ist einer der bedeutendsten Schriftsteller unserer Zeit. So steht er nun da, dieser Satz, den man viel zu oft hört und liest. Doch in diesem Fall möchte ich ihn doppelt unterstreichen.“ So preist jedenfalls Mona Lang, „Lektorin und stellvertretende Programmleiterin für internationale Literatur“ im Kiepenheuer und Witsch Verlag, ein Buch an, das nun wirklich in jeder Hinsicht gescheitert ist.

Vielleicht lässt sich der Roman mit seinen schrägen Vergleichen, banal-pathetischen Lebensweisheiten und der Vielzahl an Alliterationen auch besser im Rauschzustand verstehen. Um gefährlichen Drogenkonsum geht es in diesem Werk, das ein strenges Lektorat nötig gehabt hätte, jedenfalls auch immer wieder. 

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Autor/in
Carsten Otte