Dem 2011 entfachten Bürgerkrieg in Syrien sind bis dato, so schätzt man, rund eine halbe Million Menschen zum Opfer gefallen. Ein junger Soldat in seinen letzten Lebensstunden steht auch im Mittelpunkt des neuen Romans „Wo der Wind wohnt“ der syrischen Autorin Samar Yazbek, mit dem sie einmal mehr anschreibt gegen den Krieg und das Vergessen.
Samar Yazbek, geboren in eine wohlhabende alawitische Familie, widmet ihr Leben und ihr Schreiben schon lange dem Leiden des syrischen Volks. Beharrlich dokumentiert sie dessen Unterdrückung und die Gräueltaten durch das Assad-Regime. Das gilt auch für ihren neuen Roman „Wo der Wind wohnt“, der uns in die letzten Stunden eines 19-jährigen Soldaten namens Ali versetzt.
Zwischen Leben und Tod, Traum und Realität
Es sind die ersten Jahre des syrischen Bürgerkriegs, und Alis Patrouille ist soeben in den Bergen von Latakia bombardiert worden. Nun schwebt er zwischen Leben und Tod – und erinnert sich an Menschen und Momente, die sein bisheriges Leben geprägt haben.
Yazbek verwischt dafür in ihrem Roman gekonnt die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, aber auch zwischen Traum und Realität. Denn wir sind quasi in Alis Kopf gefangen und gleiten mit ihm durch all die Fantasien und Erinnerungen, die wie fieberhafte Halluzinationen in ihm auftauchen. So wird er etwa Zeuge einer Beerdigung.
Erst allmählich wird klar, dass Ali sich an das Begräbnis seines älteren Bruders erinnert. Freiwillig hatte dieser sich zum Militär gemeldet – ganz im Gegensatz zu Ali, der von Natur aus und zum Missfallen seines Vaters ein Träumer war. Schon als Kind verbrachte er die Zeit am liebsten zwischen den Bäumen seines Dorfes. Humairuna, eine rätselhafte Weise, die in Alis Dorf lebte, lehrte ihn früh ihren mystischen Glauben, vor allem den an die Kraft der Bäume. Und doch kann Ali den bedrohlich anwachsenden Schatten im politischen Klima Syriens nicht entkommen: Eines Tages wird auch er zwangsrekrutiert.
Ein Manifest gegen den Krieg – und für das Leben
Geschickt beleuchtet Samar Yazbek anhand der Vignetten aus Alis Leben knapp, poetisch und doch präzise zum einen die reiche Tradition der alawitischen Kultur, vor allem ihre starke Verbundenheit mit der Natur. Zugleich fängt sie wie nebenbei die alles umfassende Militarisierung und Brutalisierung ein, die jeden Winkel des syrischen Alltags durchdrungen hat. Und sie macht Ali – der nach dem tödlichen Beschuss nahe einer riesigen Eiche zu Bewusstsein kam – zum Sprachrohr, um die Sinnhaftigkeit all des Sterbens zu hinterfragen.
Am Ende lässt Samar Yazbek ihren heroischen Antihelden Trost finden in dem, was er am meisten liebt: in der Schönheit der Erde und der Natur. „Wo der Wind wohnt“ ist somit nicht nur ein eindringliches Dokument, das all jenen Stimme verleiht, die für und durch ein mörderisches Regime elend und ungehört sterben. Der Roman – dessen bestechende lyrische Intensität Larissa Bender so behutsam wie kunstvoll ins Deutsche übertragen hat – ist zugleich ein Manifest für das Leben selbst. Und womöglich bis dato Samar Yazbeks bester, ja schönster Roman.
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