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Sherko Fatah – Der große Wunsch

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AUTOR/IN
Jörg Magenau

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Was tun, wenn die eigene Tochter sich den Glaubenskriegern des Islamischen Staates anschließt und in Syrien verloren geht? Sherko Fatah legt mit „Der große Wunsch“ einen beeindruckenden Roman über kulturelle Differenzen, über Fremdheit und Zugehörigkeit vor. Der Roman ist für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Ein Mann geht durchs Gebirge. Er befindet sich im türkisch-syrischen Grenzgebiet. Es ist Nacht, es beginnt zu schneien, wilde Hunde verfolgen ihn, und er leidet an einem fürchterlichen Durchfall.

Murad ist ein Intellektueller aus Berlin. Er ist fremd in dieser kargen, abweisenden Landschaft, obwohl es das Herkunftsland seines Vaters ist.

„Unwillkürlich erinnerte er sich an die vielen Geschichten, die ihm sein Vater erzählt hatte (…) Vielleicht hatten ihn diese alten Geschichten hierher verschlagen, vielleicht war er unbewusst der Stimme seines Vaters gefolgt, um doch noch einmal diese Landschaft zu sehen, in der er fern verwurzelt war, ohne recht zu wissen, was das eigentlich bedeutete.“

Auf der Suche nach der verschwundenen Tochter

Murad ist auf der Suche nach seiner Tochter. Das ist die Ausgangssituation in Sherko Fatahs Roman „Der große Wunsch“. Sie ist verschwunden, hat einen Glaubenskrieger geheiratet, der für den „Islamischen Staat“ kämpft.

Murad fragt sich, ob er für diesen radikalen Schritt verantwortlich ist, was er falsch gemacht hat, und ob er ihr vielleicht mehr über sein Herkunftsland hätte erzählen sollen. Er nimmt Kontakt zu dubiosen Mittelsmännern auf, die ihn mit Fotos beliefern, auf denen angeblich die Tochter zu sehen ist. Doch Murad kann die verschleierte Frau, von der nur die Augen zu sehen sind, nicht identifizieren.

Mehr kann er zunächst nicht tun, und so besteht Sherko Fatahs „Der große Wunsch“ vor allem aus Warten und aus der Konfrontation mit der in ihrer Leere beängstigenden Landschaft und ihren wortkargen Bewohnern: dem misstrauischen Wirt und seiner fürsorglichen Frau, dem Chef der Bar, der über alle und alles Bescheid weiß oder einer Frau aus einem syrischen Flüchtlingslager, die eine Tasche voller Asche mit sich herumträgt.

Ein Fremder im eigenen Herkunftsland

Wie Sherko Fatah, der einen kurdischen Vater hat und in der DDR aufwuchs, gehört Murad zwar qua Herkunft zu diesen Menschen, versteht aber nicht, wie sie denken und handeln. Er spricht ihre Sprache und bleibt doch fremd.

In seinen parallel zum Roman erschienenen Poetikvorlesungen „Die Fremden sind wir“ setzt Sherko Fatah sich mit dem Umstand auseinander, qua Herkunft einen besonderen Zugang zu einer Region zu haben, die ihm zugleich gänzlich unvertraut ist:

„Was ich aber auch spürte, war, dass eben dieser Umstand eine gute Voraussetzung für Literatur darstellte. Es konnte also nicht darum gehen, einen exotischen Heimatroman zu schreiben, das heißt (…) eine Nähe zu simulieren, die ich selbst nicht empfand.“

Dieser Zwischenraum ist der Ort, den Sherko Fatah literarisch fruchtbar macht. Grenzen sind ja nicht nur Trennungslinien, sondern auch Berührungspunkte, und sie sind, wie ein junger Einheimischer Murad erklärt, jedenfalls in dieser Gegend rein willkürlich.

„Ich weiß, was du meinst. Du denkst, eine Grenze ist eine Grenze, und sie darf auf keinen Fall durch eine fremde Macht überschritten werden. Das ist europäisches Denken. Hier sind Grenzen etwas Abstraktes. Nimm an, Daesh oder ISIS, wie ihr sie nennt, würde das ganze Gebiet erobern, alles, was du hier siehst. Was hätten sie davon?“

Viel wichtiger wird eine andere Grenze, die Sherko Fatah ins Romangeschehen einzieht: die Grenze zwischen der handfesten, bedrohlichen Wirklichkeit da draußen, in der Murad sich immer wieder verirrt, und der unübersichtlichen digitalen Welt, deren Wahrheits- und Wirklichkeitsstatus von vornherein problematisch ist.

Fragen nach Verantwortung, Zugehörigkeit, Sinnsuche

Murad bekommt nicht nur Fotos, sondern auch Audiofiles seiner mutmaßlichen Tochter zugespielt, in denen sie berichtet, wie es im Inneren des „Islamischen Staates“ zugeht. Und er korrespondiert per Mail mit seiner Ex-Frau in Berlin, die wenig von seiner Reise in den Nahen Osten hält.

Auf diesem doppelten Boden – oder vielmehr Abgrund – verhandelt er Fragen nach Verantwortung, Zugehörigkeit, Sinnsuche – Fragen, die das Leben ausmachen, die aber hier, in der Leere der Landschaft und in der Radikalität der mörderischen Gotteskrieger eine ganz andere Dringlichkeit erfahren.

All das bringt Sherko Fatah erzählerisch zur Sprache. Alles verwandelt sich in Bilder, in Stimmung, in Schönheit und existentielle Not. Alles Gedachte entsteht aus dem erlebten Augenblick heraus. So wird „Der große Wunsch“ zum großen Epos, zu einem aufwühlenden, grandiosen Leseabenteuer.

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Jörg Magenau