Buchkritik

Ocean Vuong – Zeit ist eine Mutter. Gedichte

Stand
Autor/in
Katharina Borchardt

Der vietnamesisch-amerikanische Autor Ocean Vuong hat Erfolg. In den letzten Jahren wurde er mit Preisen und Stipendien geradezu überhäuft. Trotzdem sieht er sich bloß als „Verlierer mit einer Glückssträhne“, wie er in seinem neuen Buch schreibt. „Zeit ist eine Mutter“ ist ein so düsterer wie tapferer Gedichtband, in dem sich Ocean Vuong von seiner 2019 verstorbenen Mutter verabschiedet und seine Beziehung zur Welt neu ordnet.

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Wer den neuen Gedichtband von Ocean Vuong betritt, der steht fast sofort im Schnee. Schnee ist wichtig in diesem Band. Er fällt, er liegt, wird weggeschippt.

„Theorie vom Schnee“ heißt daher auch der erste Text im ersten Teil. Reinweißes Material, dieser Schnee. Beste Schreibunterlage, weniger für Worte denn für Körper.

Was uns für immer bleibt, ist etwas, das wir verloren
Im Schnee: der trockene Umriss meiner Mutter
Versprich mir, dass du nicht wieder verschwindest, sagte ich
Sie lag kurz da, überlegte es sich
Eins nach dem andern löschten die Häuser die Lichter
Ich legte mich auf ihren Umriss, wollte sie so be-wahren
(Ocean Vuong: „Theorie vom Schnee“ aus „Zeit ist eine Mutter“, S. 15)

Es ist wohl Ocean Vuong selbst, der hier vom Schneeabdruck der Mutter umfangen wird. Denn in dem Band „Zeit ist eine Mutter“ ist es seine bekannte, zart-klare Stimme, die spricht und von Menschen erzählt, die schon in seinen vorherigen beiden Büchern auftraten. Es empfiehlt sich daher, Vuongs Biographie ein wenig zu kennen. Im Vordergrund steht die Mutter, die einst mit dem zweijährigen Ocean aus Vietnam floh und nach Amerika kam. Über zwanzig Jahre lang arbeitete sie in einem Nagelstudio.

Hast die letzten 8,48 $
aus dem Glas gekratzt.
Dein Trinkgeld von einem Tag
im Nagelstudio.
(Ocean Vuong: „Aus den Federn“ aus „Zeit ist eine Mutter“, S. 39)

Ocean Vuongs Mutter starb im November 2019 mit nur 51 Jahren. Sie hatte Krebs.

„Ich habe den Körper meiner kranken,
dann sterbenden Mutter gekannt.“
zitiert Ocean Vuong aus Roland Barthes‘ „Tagebuch der Trauer“, das er auch schon in seinem Roman „Auf Erden sind wir kurz grandios“ erwähnte. Da lebte die Mutter noch, und Vuongs Buch war ein romanlanger Brief an sie. Diese Form wiederholt sich in seinen Gedichten. Auch hier spricht er die, die er liebt, direkt an.

„Liebe Sara“ heißt das Gedicht für seine Cousine, in der Explosionen eine Rolle spielen. Wie überhaupt oft Gewalt aufflackert bei Vuong und viele Waffen im Spiel sind. Ist das noch Vietnam oder schon Amerika?

„Lieber Peter“ ist dann das Gedicht aus der Psychiatrie für seinen Geliebten Peter Bienkowski.

„Lieber T“ ist sehr wahrscheinlich an Jugendfreund Trevor gerichtet, der früh an Drogen starb, wie man in Ocean Vuongs autobiographischem Debütroman lesen konnte, und „Liebe Rose“ das zehnseitige Gedicht an die Mutter, in dem der heute 33-jährige Sohn noch einmal Momente ihres Lebens rekapituliert. Auch dies war bereits ein großes Thema im Roman „Auf Erden sind wir kurz grandios“. Immer wieder also: das viele Zurückdenken, Zurückgehen.

Wieso ist die Vergangenheitsform immer länger?
(Ocean Vuong: „Schöner kurzgewachsener Verlierer“ aus „Zeit ist eine Mutter“,(S. 22)

fragt Vuong an einer Stelle. Und ja, er scheint besessen von dem, was war und was für immer verloren ist. In einem ebenfalls zehnseitigen Langgedicht mit dem Titel „Künstlerroman“ spult er den Film – offenkundig – seines Lebens noch einmal zurück.

Er läuft rückwärts an dem Maisfeld vorbei (wo er mit sieben seinen Hund Cheetah verloren und zwei Stunden heulend im Mais gesessen hat) und nimmt sein Jackett, das über einem kaputten Hydranten hängt. Er zieht es an und geht in umgekehrter Richtung weiter auf das Haus seiner Mutter zu, wo er sie in einer schmuddeligen Küche auf die Wange küsst, als der Fünfzigdollarschein aus seiner Hand in ihre und dann in ihren BH zurückwandert. Er steigt die Treppe hoch, betritt das Bad und lässt das Erbrochene im Waschbecken zu seinem Mund aufsteigen. Rotz wieder die Nase hoch. Händezittern.
(Ocean Vuong: „Künstlerroman“ aus „Zeit ist eine Mutter“,S. 67f.)

In diesem Buch wird sehr viel gezittert, gelitten und gestorben. Ein Evan erschießt sich im Hühnerstall. Vier Freunde mit Drogen im Blut überschlagen sich in ihrem Mazda. Der Ich-Erzähler nimmt das Anti-Panik-Medikament Xanax. An einer Stelle deutet sich der Missbrauch durch einen Freund der Mutter an. Gefährdetes Leben.

Manchmal
gehe ich nur auf Partys, um unter Menschen
die Füße aus hohen Fenstern baumeln zu lassen.
(Ocean Vuong: „Die letzte Ballkönigin der Antarktis“ aus „Zeit ist eine Mutter“, S. 41)

In seinem dritten Buch wirkt Ocean Vuong fragiler als je zuvor. Konnte man seine vorherigen Bücher noch mit historisch-soziologischem Blick lesen, also um etwas über die Lebenswelten eines schwulen Amerikaners mit viel Vietnam im Blut zu erfahren, so ist „Zeit ist eine Mutter“ in diesem Sinne nicht mehr vordergründig informativ. Es ist vielmehr ein sehr privates Buch, das trotzdem vielen aus dem Herzen sprechen mag: die fortgeschrittene Selbstverortung eines sensiblen jungen Mannes mit sehr viel Schmutzerfahrung. Seinen literarischen Erfolgen – er wurde in den letzten Jahren geradezu überhäuft mit Preisen und Stipendien – traut er nicht so recht.

Ich bin ein Verlierer mit einer Glückssträhne.
(Ocean Vuong: „Schöner kurzgewachsener Verlierer“ aus „Zeit ist eine Mutter“, S. 22)

Ein Verlierer aber, der sich schreibend abstützt und stabilisiert. Welche Rolle Klang und Rhythmik dabei spielen, wird im silbenreichen Deutsch leider nicht immer ganz klar. Konnte man in „Nachthimmel mit Austrittswunden“ das englische Original immer auf der linken Seite mitlesen, so geht das in der einsprachigen Ausgabe von „Zeit ist eine Mutter“ leider nicht. Was man aber sieht: die teils langen Kaskaden, teils aber auch nur mageren Kurzzeilen, die deutlich Fragment sind und dennoch genau die Form bilden, in die Ocean Vuong hineinpasst. Und sicher auch manch ein Leser. So liegt nun sein drittes Buch vor, das viel von Einsamkeit erzählt und diese gerade deshalb ein wenig überwindet.

nachdem ich aus allem,
was ich verlor,
eine Arche mir baute.
(Ocean Vuong: „Niemand weiß, wo es zum Himmel geht“ aus „Zeit ist eine Mutter“, S. 90)

Buch der Woche Ocean Vuong - Nachthimmel mit Austrittswunden

Die Gedichte von Ocean Vuong – jetzt gibt es sie endlich auch auf Deutsch. Eine Suche nach der eigenen Identität zwischen Vietnam und Amerika, homosexuellem Außenseitertum und sozialem Prekariat, zwischen Drogen und Aufstiegswillen – mit den Mitteln der Poesie.

Zweisprachige Lyrikausgabe
Aus dem amerikanischen Englisch von Anne-Kristin Mittag
Carl Hanser Verlag
ISBN 978-3-446-26643-8
176 Seiten
19 Euro

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