Buchkritik

Mia Raben – Unter Dojczen

Stand
Autor/in
Oliver Pfohlmann

Eine ausgebrannte Pflegerin aus Polen versucht bei einer Hamburger Matriarchin einen Neuanfang. Mia Rabens Roman „Unter Dojczen“ beleuchtet die oft übersehene Realität osteuropäischer Haushaltshilfen und zeichnet ein anrührendes, wenn auch etwas märchenhaftes Bild von Freundschaft, Selbstfindung und Hoffnung.

Hand aufs Herz: Was wäre unsere alternde Gesellschaft ohne all die Haushaltshilfen aus Osteuropa? So manch wacklige Familienkonstruktion mit hilfsbedürftigen Großeltern würde ohne sie zusammenbrechen. So gesehen ist es also sehr zu begrüßen, dass all den Pflegerinnen und Pflegern aus Polen oder Tschechien endlich ein literarisches Denkmal gesetzt wird.

Auch wenn man dem Debütroman der 47-jährigen Autorin und Journalistin Mia Raben mit dem Titel „Unter Dojczen“ ein wenig mehr spannungsförderndes Konfliktpotenzial wünschen würde, von seinem fast schon märchenhaften Happy End ganz zu schweigen. 

Aufopferung bis zum Burn-out 

Die Protagonistin heißt Jola. Sie ist Polin Anfang fünfzig, Mutter einer erwachsenen Tochter und pendelt seit zwölf Jahren zwischen Łódź und Deutschland. Um ihre Schulden bei Kredithaien abzuzahlen, arbeitet sie als sogenannte „Live-in“, als fest in einem Haushalt lebende Betreuerin. Den Löwenanteil ihres Gehalts kassiert eine dubiose Agentur; dafür muss sie das Mädchen für alles spielen, rund um die Uhr, an sieben Tagen die Woche. Und wenn etwas schiefgeht, darf sie sich von ihren „seniorki“ auch noch antipolnische Vorurteile anhören. Wie beim Ehepaar Weiß, wo die aufopferungsvolle Jola einen Burn-out erleidet. 

Die Ruhe kam mit den Wochen. Das Ausbleiben ewiger Forderungen war eine Tatsache. Kein schmerzerfülltes Stöhnen von Herrn Weiß, keine gehässige Stimme von Frau Weiß. (…) Kein ‚Schrubb!‘. Kein ‚Saug!‘. Kein ‚Kriech!‘. Kein ‚Trag!‘. Kein ‚Joooohhhlaaa!‘.  

Dass Deutsche Jolas Vornamen partout falsch, nämlich mit einem langen O, aussprechen, wird im Roman zum Zeichen für die fehlende Empathie auf der Gegenseite. Zu Romanbeginn wagt Jola trotzdem einen Neuanfang, bei einer gut situierten Familie in Hamburg, mit Arbeitsbedingungen, die fast zu schön klingen, um wahr zu sein. Weshalb man bei der Lektüre, quasi gemeinsam mit der Protagonistin, immer wieder auf den unvermeidlichen Haken wartet.  

An der Grenze zur Übergriffigkeit 

Doch es kommt keiner. Sicher, auch bei den von Klewens gibt es so manche kulturellen Missverständnisse. Die Szene etwa, als die hippe Schwiegertochter Jola zum gemeinsamen Saunieren mit ihren nicht minder hippen Freundinnen drängt, ist hart an der Grenze zur Übergriffigkeit – führt aber dennoch dazu, dass Jola sich und ihren Körper neu entdeckt. Und dann ist da noch Uschi, die zu betreuende Matriarchin, eine Vertriebene aus dem ehemaligen Ostpreußen, die ein rechtes Biest sein kann. 

‚Theo … wir fahr’n nach Lodsch!‘, sang Uschi und lachte. Jola [Jolla] hasste es, wenn Deutsche dieses bescheuerte Lied von Vicky Leandros anstimmten, sobald es um ihre Heimatstadt ging. Ihre Lehrerin hatte ihnen damals erzählt, dass Überlebende des Ghetto Litzmannstadt berichtet hatten, dieses Lied sei von SS-Männern an der Rampe gesungen worden, aber Jola fehlte jetzt die Kraft, Uschi darauf hinzuweisen.

Wie sich trotz aller Unterschiede eine Art Freundschaft zwischen den beiden Frauen entwickelt, ist durchaus anrührend zu lesen und erinnert ein wenig an den Kinohit „Ziemlich beste Freunde“. Zumal die Zeit bei den von Klewens Jola erlaubt, wieder zu sich zu kommen und endlich wieder zu träumen. Etwa davon, eine eigene Vermittlungsagentur zu gründen, mit fairen Arbeitsbedingungen für ihre Kolleginnen. Die Unterstützung der von Klewens macht es am Ende möglich.  

Geschichte einer weiblichen Selbstermächtigung 

Jola findet sogar die Kraft, nach jahrelangem schamvollem Schweigen wieder den Kontakt zu ihrer Tochter zu suchen. Gerade rechtzeitig, wie sich zeigt, ist diese doch kurz davor, in eine spanische Großfamilie einzuheiraten. Spätestens hier freilich wechselt Mia Rabens überwiegend flüssig zu lesender Roman einer weiblichen Selbstermächtigung das Genre: Aus einem psychologisch-realistischen Sozialroman wird quasi ein modernes Märchen mit Happy End. Mit einem solchen Ende wird die Autorin ihrem Thema leider nicht gerecht. 

Aktuelle Literatur über Freundschaften

SWR2 vor Ort lesenswert Gespräch "Lichtungen" - Iris Wolff erzählt von bleibender Freundschaft

Nach der Wende verlässt Kato Rumänien, reist durch Europa. Ihrem Kindheitsfreund Lev schreibt sie: „Wann kommst du?“ In „Lichtungen“ erzählt Iris Wolff von bleibender Freundschaft.

SWR2 Vor Ort SWR2

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Oliver Pfohlmann