Die meisten Menschen sehen die Verletzlichkeit als Schwäche – und manche nutzen sie auch aus. In seinem neuen Buch „Ethik der Verletzlichkeit" plädiert der Freiburger Medizinethiker Professor Giovanni Maio für einen anderen Blick auf die Eigenschaft der Verletzlichkeit. Im Gespräch mit SWR2 spricht er sich dafür aus, auch in der Wissenschaft anders an Verletzlichkeit heranzugehen.
Notwendig: Sorge statt Einsamkeit
„Jeder ist selbst verletzlich“ stellt Giovanni Maio fest. Diese Grundstruktur des Menschen müsse man begreifen – sehen, dass diese Eigenschaft „sowohl eine Bedrohung wie auch eine Stärke sein könne“. Daraus ergibt sich für den Medizinethiker und Philosophen die Notwendigkeit, andere nicht allein zu lassen mit ihren Problemen und Sorgen, sondern sich zu kümmern.
Es braucht mehr Empathie
Für den Freiburger Professor, der mit vielen Veröffentlichungen zur Philosophie der Medizin hervorgetreten ist, ergibt sich daraus die Forderung eines anderen Umgangs miteinander: Wertschätzung sei notwendig, weniger Gleichgültigkeit, mehr Empathie. Wörtlich sagt Maio: „Wir können durch eine Sorgekultur dafür sorgen, die Verletzlichkeit zu wenden.“
Die Medizin muss sich Zeit nehmen
Das gilt, so der Direktor des Instituts für Medizinethik und Geschichte der Medizin am Freiburger Uni–Klinikum, auch und vor allem in der Medizin: „Die Medizin muss das neu in den Blick nehmen“, fordert er in SWR2. Vor allem müssten sich Mediziner für das Phänomen der Verletzlichkeit mehr Zeit nehmen.
Glück braucht andere
Vor allem das Alleine–Sein fördere Verletzlichkeit. Deshalb gebe für die medizinischen Berufe die Notwendigkeit, Menschen nicht allein zu lassen. Doch glaubt Maio, der Impetus bestehe auch allgemein. Als Grundthese äußert er im Gespräch: „Es ist nicht nur jeder seines Glückes Schmied, sondern er braucht andere dafür."
Giovanni Maio wurde 2000 mit dem Thema „Ethik und Geschichte der Medizin“ habilitiert und lehrt seit 2005 an der Uniklinik Freiburg im Breisgau. Er veröffentlichte unter anderem das Buch „Mittelpunkt Mensch" (2011).
Im Jahr 2023 erhielt er von der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin und der Deutschen Schmerzliga den „Deutschen Schmerzpreis“.
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