Mathias Énard erhielt 2015 für den Roman „Kompass“ den Prix Goncourt und 2017 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. In seinem neusten Roman legt er beinahe zwei Bücher in einem vor: Ein verstörendes Leseerlebnis, urteilt Judith Heitkamp.
Wie gewohnt, Mathias Énard will alles. Das Schlimmste und das Beste. Totale Gewalt - totaler Geist, der Mensch im maximalen Gegensatz - in einem Roman. Der diesmal aber aus so unterschiedlichen Hälften besteht, dass man eigentlich von zwei Büchern sprechen kann, stilistisch, inhaltlich, perspektivisch.
Politische Ereignisse und grausame Realität
Spätestens als der Krieg in der Ukraine ausbrach, sagt Mathias Énard, sei er überzeugt gewesen, dass zwei Geschichten notwendig seien.
Die Erzählung der politischen Ereignisse und die der extrem grausamen Realität nämlich. Der eine Erzählstrang ist rough, brutal, tierisch fast, ein namenloser Deserteur in einem namenlosen Krieg. Wir, beim Lesen, sind er, sind Ich, manchmal auch nicht, alles verschwimmt, wo es nur um durchhalten und aushalten und essen und trinken und kaputte Körper geht. Epischer Ton, Verse teils.
Ein zweiter Erzählstrang in Berlin
Der andere Romanstrang: völlig andere Erzählweise. Zivilisation. Mathematiker und Mathematikerinnen, Vertreter des abstrakten Geistes sozusagen, treffen sich. Sie haben genau bezeichnete Biographien, befinden sich historisch eindeutig in der Nähe von Berlin, Spätsommer 2001, Vorabend des 11. September. So dass wir Lesenden gleich wissen: der Einbruch der Gewalt steht erneut bevor.
Auf einem Havel-Dampfer soll ein Kolloquium stattfinden. Zu Ehren eines - von Énard erfundenen - Großen des Fachs, Paul Heudeber, der das KZ Buchenwald überlebt hat und sich nach dem Krieg für die DDR entschied.
Und ja, dieser Spoiler muss sein, es ist nicht so, dass die Spannung zwischen diesen beiden Romanwelten sich zum Schluss über die Geschicke der Figuren irgendwie auflösen würde. Die zwei Erzählstränge sind eher gegenseitige Resonanzräume. Es gebe schon viele Gemeinsamkeiten, sagt Énard, als er das Buch vorstellt, die Leser müssten die Verbindung herstellen - was ist Treue, was ist Desertieren, was heißt sich opfern?
Ein Buch zum russischen Angriffskrieg
In dieser formalen Radikalität hat man das selten gelesen. Es ist das große Thema des Goncourtpreisträgers: Die Gewalt, die immer neue Gewalt gebiert, die permanente Herausforderung, zu widerstehen. „Mathematik und Widerstand“, so heißt der Festvortrag, den Heudebers Tochter Irina hält, kurz bevor in New York die Twin Towers angegriffen werden.
Geschrieben wurde „Tanz des Verrats“ vor dem Hintergrund der russischen Invasion in die Ukraine, gelesen wird das Buch nun vor dem doppelten Hintergrund immer weiterer verbaler und militärischer Aufrüstung. Und der lodernden Kriege in Ost und Nahost. Mathias Énard ist beiden Weltgegenden, und nicht nur literarisch, verbunden.
Sein Buch ist ein verstörendes Leseerlebnis.
Mehr Mathias Énard
Buchkritik Mathias Énard – Der perfekte Schuss
Ein Scharfschütze – irgendwo in einem südlichen Land. Er eliminiert, wen auch immer er will. „Der perfekte Schuss“ ist der erst jetzt ins Deutsche übersetzte Debütroman von Mathias Énard, der 2015 für seinen Roman „Kompass“ den Prix Goncourt und 2017 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung erhielt. „Der perfekte Schuss“ ist drängend aktuelle Literatur über die Verrohung in Kriegszeiten.
Rezension von Wolfgang Schneider.
Aus dem Französischen von Sabine Müller
Hanser Berlin Verlag, 192, Seiten, 24 Euro
ISBN 978-3-446-27639-0
Buchkritik Mathias Enard – Das Jahresbankett der Totengräber
Mit dem Blick eines Anthropologen präsentiert Mathias Enard ein faszinierendes Portrait des ländlichen West-Frankreichs im 21. Jahrhundert.
Rezension von Kathrin Hondl.
Aus dem Französischen von Holger Fock, Sabine Müller
Hanser Verlag Berlin, 480 Seiten, 26 Euro
ISBN: 978-3-446-26934-7
Mehr Literatur zum Thema
SWR2 lesenswert Kritik Benjamín Labatut – Maniac
Benjamín Labatuts Roman „Maniac“ umkreist das Genie John von Neumann und zieht einen weiten Bogen von der Mathematik über die Atombombe bis zur Künstlichen Intelligenz.
Beitrag mit Lesung Sofi Oksanen – Putins Krieg gegen die Frauen
Die finnisch-estnische Autorin Sofi Oksanen beschreibt in ihrem Essay „Putins Krieg gegen die Frauen“ das Ausmaß systematischer sexueller Gewalt im Krieg gegen die Ukraine. Erklärungen dafür findet sie in der russischen Geschichte. Ein eindrückliches und besonders wichtiges Buch.
Übersetzt von Angela Plöger und Maximilian Murmann
Kiepenheuer & Witsch Verlag, 336 Seiten, 24 Euro
ISBN 978-3-462-00691-9
Buchkritik Nora Krug – Im Krieg
Seit mehr als 20 Jahren lebt die Illustratorin Nora Krug in New York und hat sich mit ihren Arbeiten zu zeitgeschichtlichen Themen international einen Namen gemacht. In dem neuen Band „Im Krieg“ der gebürtigen Karlsruherin berichten zwei Zeitzeugen aus Kiew und St. Petersburg von ihren Alltagserfahrungen, die auf ganz unterschiedliche Weise von existentieller Not, von Verlust und Bedrohung geprägt sind. Ihre Emotionen hat Nora Krug mit sehr einfühlsamen, starken Illustrationen zum Ausdruck gebracht.
Übersetzt von Alexander Weber und Nora Krug
Penguin Verlag, 128 Seiten, 28 Euro
ISBN 978-3-328-60325-2