Buchkritik

Markus Thielemann – Von Norden rollt ein Donner

Stand
Autor/in
Christoph Schröder

Ein junger Schäfer, eine urdeutsche Landschaft und Gespenster, die aus der Vergangenheit auftauchen. Markus Thielemanns Roman „Von Norden rollt ein Donner“ steht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis und überzeugt durch seine Atmosphäre.

Schon das Eröffnungsbild von Markus Thielemanns Roman hat etwas Verwunschenes, beinahe Biblisches: 

Sie erscheinen auf der Oktoberheide, auf einem Rücken der Ebene, hinter dem es nichts zu geben scheint als immerzu treibende Wolkenmaserung: zwei Hundeschemen, dann der Hirte. Den Stecken in der Rechten, bleibt er im Gegenlicht, seine Gestalt so gebeugt, dass man ihn für einen alten Mann halten könnte.

Der Mann, hinter dem sich eine große Schafherde versammelt hat, ist in Wahrheit gerade einmal 19 Jahre alt. Jannes heißt er. Kurz darauf rollt tatsächlich von Norden her der Donner über die Landschaft. Doch weder der Hirte noch seine Herde reagieren nervös auf das bedrohliche Geräusch, weil sie es kennen: Es ist das Explodieren der Panzermunition, die auf dem nahe gelegenen Fabrikgelände des Waffenherstellers Rheinmetall getestet wird, seit vielen Jahrzehnten bereits. 

Idylle mit Rissen 

Dieser Auftakt steht sinnbildlich für den gesamten Roman, in dem alles mindestens doppelt codiert ist und in dem der donnernde Wagner‘sche Götterzorn, die Ästhetik von schauerromantischen Caspar David Friedrich-Szenen und nächtens durch die Landschaft geisternde Frauengestalten bis zur Unkenntlichkeit mit der Gegenwart verschmelzen. Das macht den Reiz von Markus Thielemanns Roman aus – dass er Mythos und Realität nicht als Gegensatzpaar darstellt, sondern das eine als folgerichtige Konsequenz des anderen atmosphärisch stimmig inszeniert. 

Jannes lebt auf einem Drei-Generationen-Hof in der Lüneburger Heide. Dem Großvater Wilhelm gehört das Land; die Großmutter ist dement und im Heim; auch Jannes‘ Vater Friedrich zeigt erste Ausfallerscheinungen. Der traditionelle Familienverbund zeigt Risse, wie auch die vermeintliche Landschaftsidylle. Thielemann hat seinen Roman geografisch exakt lokalisiert: Der Hof der Familie liegt zwischen Unterlüß und Faßberg. Faßberg ist eine NS-Siedlung. Das ehemalige Konzentrationslager Bergen-Belsen ist 25 Kilometer entfernt. Das gesamte Terrain ist durchzogen von Sperrgebieten und Truppenübungsplätzen. Vermintes Gelände in jeder Hinsicht. Zugleich aber ist die Heide ein großes touristisches Geschäft; ein deutsch aufgeladener Sehnsuchtsort, den Großvater Wilhelm in einem Interview mit einer NDR-Journalistin entzaubert: 

Wir sind am Ende auch nichts anderes wie einfache Bauern. Unsere Ernte im Sommer sind die reichen Knacker aus den Städten. Abgerechnet wird hier doch in Kaffeefahrten.

Wölfe und Heimatschützer 

Markus Thielemann hat sich ungeheuer viel vorgenommen für einen noch nicht einmal 300 Seiten dicken Roman – und das meiste davon funktioniert. Er beschreibt Strukturwandel und den inneren Konflikt eines jungen Menschen zwischen Bindungen und Aufbruch. Er zeigt in seinem an Zeichen und Spuren reichen Buch, wie fortgeschriebene deutsche Mythen in die Gegenwart hineinwirken: Der Wolf ist in der Gegend unterwegs. So genannte Heimatschützer rüsten auf, um die Scholle zu verteidigen. Das von den Neonazis genutzte Wolfsangel-Symbol taucht da und dort auf.

Es erstarkt, wir schreiben das Jahr 2015, eine so genannte Professorenpartei, die die Stimmung in der Bevölkerung erspürt – heute weiß man, wohin das geführt hat. Und nicht zuletzt hat Jannes selbst Visionen von einer Frau; einem Gespenst, das ihm immer wieder in Nächten auf der Heide begegnet und das mit einem lange verschwiegenen Familiengeheiminis zu tun hat. Als eines seiner Tiere eine Fehlgeburt hat, wittert Jannes den Einfluss höherer Mächte: 

Spuk, denkt Jannes, und erschaudert, betrachtet die verformten Wesen im Stroh. Hier stimmt etwas nicht. Eine tiefe Gewissheit überkommt ihn. Es hat mit ihr zu tun. Sie hat ihn verflucht.

Hin und wieder verfängt Thielemann sich in seinen Ambitionen. Dann verschwimmen in diesem Roman die Grenzen zwischen moderner Spukgeschichte und Geisterbahn. Trotzdem: „Von Norden rollte ein Donner“ ist ein ungewöhnliches, kluges und literarisch hoch interessantes Buch. 

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