Die 1939 geborene Kanadierin gilt – damit ist sie naturgemäß nicht allein – seit Jahren als eine Kandidatin für den Literatur-Nobelpreis, wobei die Auszeichnung für Annie Ernaux ihre Chancen nicht unbedingt gesteigert haben dürfte. Bekannt ist Atwood vor allem für ihre Romane, allen voran der 1985 erschienene und von Volker Schlöndorff verfilmte „Report der Magd“.
Doch Atwood ist auch eine produktive Verfasserin von Gedichten, und auch das bereits seit den frühen 1960er-Jahren. Im Vorwort zu diesem Band, der Gedichte aus den Jahren 2008 bis 2019 enthält, offenbart Atwood ihr Verfahren beim Verfassen von Gedichten: Notiert, entworfen, hingeworfen werden sie zunächst auf losen Zetteln niedergeschrieben und in einer Schublade abgelegt. Erst später holt Atwood ihre Notizen dann hervor, um sie zu bearbeiten.
„Innigst/Dearly“ ist also nun eine zweisprachige, vom Lyriker und Büchnerpreisträger Jan Wagner ins Deutsche übertragene Ausgabe, die mit einer geradezu programmatischen Ansage anhebt: „Dies sind die späten Gedichte. / Die meisten Gedichte sind späte, / versteht sich: zu spät, / wie der Brief eines Seemanns, / der eintrifft, nachdem er ertrunken ist.
Dieser leicht melancholische Tonfall durchzieht den Band, ohne ihn vollständig zu dominieren, denn selbstverständlich handeln Atwoods Gedichte auch vom Abschiednehmen und vom Tod, gleichzeitig aber sind es auch die engagierten Texte einer politischen Schriftstellerin, die in der Sprache und in den fein geschliffenen Worten einen Trostpunkt in einer versehrten Welt aufbaut.
Und auch das effektvoll an das Ende gestellte Titelgedicht schwankt zwischen Nachdenklichkeit und Humor: „Dearly“, das sei ein altes Wort, das verblasse, schreibt Atwood, und erzählt davon, wie sie sich durch die Welt bewegt, vorsichtig, „wegen der kaputten Knie, / die mir noch mehr am Arsch vorbeigehen, als du dir vorstellen kannst, / denn es gibt andere, wichtigere Dinge.“ In diesem Buch sind sie aufgehoben.