Adelina lebt als Näherin zwischen Obdachlosigkeit und einem Einsatz für die Rote Brigade, die italienische Terrororganisation. Der Roman „Die Krume Brot“ erzählt von einer Frau, die um Brotkrümel kämpfen muss. Der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss hat ihn geschrieben.
Lukas Bärfuss lässt sich viel Zeit, bis er im neuen Roman seine Heldin auftauchen lässt. Aber schon im ersten Satz weiß man: Das wird ein Martyrium für Adelina.
„Niemand weiß, wo Adelinas Unglück seinen Anfang nahm, aber vielleicht begann es lange vor ihrer Geburt, 45 Jahre vorher, um genau zu sein, an der Universität in Graz.“
Da studiert ihr Großvater, der liest den ziemlich kruden italienischen Nationalisten Cesare Battisti und hasst alles Slawische abgrundtief. Er wird später ein treuer Anhänger von Mussolini.
Infolgedessen, ich will da nicht zu viel verraten, sagt er sich dann auf beeindruckend ignorante Weise von seinem Sohn Mario los, schickt den armen Kerl sogar in den Krieg, damit er dort fallen könne. Tut er aber nicht. Stattdessen studiert er Landvermessung, zieht in die Schweiz, findet eine Frau und gründet er eine Familie - und setzt sie in den Sand.
Leben ist bei Bärfuss ein ziemlich existenzielles Dominospiel, vor allem wenn man arm ist. Denn wer arm ist, ist abhängig. Marios Tochter Adelina will ihre eigenen Familienerfahrungen machen, positive Rolemodels gibt es in ihrem Umfeld aber nicht – und so lässt sie sich vom ersten besten schwängern, der mal nett zu ihr ist, macht eine Ausbildung zur Näherin – und bleibt ein kleines Licht.
Intelligenz, Ehrlichkeit, Freundlichkeit, nichts zählt: Sie ist zu nichts anderem berufen. „Die Krume Brot“ erzählt die Lebensgeschichte von Adelina, einer jungen Frau. Und diese Lebensgeschichte ist vorhersehbar, schon jung steht sie mit einem Haufen Schulden da, geerbt vom Vater und hat nichts zu verkaufen als sich selbst.
Das Thema Erbe und Schicksal beschäftigt Bärfuss seit langem, er hat im Roman „Koala“ die Heroinsucht seines Bruders thematisiert, und am intensivsten taucht es auf in dem kleinen, sehr ergreifenden Bericht „Vaters Kiste“, die im vergangenen Jahr erschien. Das war eine juristisch-literarische Vorlesung über seinen Vater, dessen Erbe Bärfuss ausschlagen musste. Ein lebenslanges Trauma.
Etwas grundlegend anders zu machen als die eigenen Eltern ist eine riesige Tat. Wer es nicht tun musste, ist zu beneiden. Eines der vielen großen Themen, denen sich Lukas Bärfuss stellt – allein dafür ist er schon einer der wichtigen deutschsprachigen Autoren.
„Die Krume Brot“, auch wenn der Titel sich alttestamentlich anhört, spielt hauptsächlich in den 50er bis frühen 70er Jahren, Italien ist genauso betonmoralisch wie Deutschland vor den 68ern. Andere gehen auf die Straße, auf die Barrikaden, in den bewaffneten Kampf – Adelina wird auch diese Seite der berüchtigten Roten Brigaden kennenlernen. Sie stolpert durch die Zeit des Terrorismus wie Simplicissimus durch den 30jährigen Krieg.
Irgendwann sind die Träume fertig, da spielt das Ende des Buchs, es ist 1973. Die Utopien sind kaputt, der Kampf geht trotzdem weiter und Adelina fühlt sich mittendrin …
„… auch wenn sie nicht genau verstand, was diese Sache war, was Renato wollte, natürlich, eine andere Welt, die Abschaffung dieser Verhältnisse, aber wie die Welt danach aussehen sollte, das war ihr schleierhaft. “
Es erscheinen gerade viele große Bücher und Erinnerungen über die frühen 70er. Das kann man natürlich damit erklären, dass die Generation der Boomer in Rente geht und Zeit und Langeweile hat und sich deshalb mit ihrem Gründungsmythos auseinandersetzt. Lukas Bärfuss aber ist Jahrgang 1971, für Lebensrückblicke ist das zu jung. Ihn treibt etwas anderes. Er, der als Underdog unter schwierigsten Verhältnissen aufwuchs, untergräbt mit allem, was er schreibt, Selbstverständnis und Selbstverständlichkeiten unserer liberal-aufgeklärten Gesellschaft. Egal, ob er sich um Entwicklungshilfe, Kolonialismus, Sozialpolitik, Religion kümmert, immer macht er ein Fass auf. Und immer stinkt es daraus.
Aufbrechen, meint er, kann in der liberalen Gesellschaft immer nur, wer Freiheit empfinden kann. Adelina fragt sich
„Wie soll es weitergehen, woher soll das Geld kommen, woher die Krume Brot? - … sie hatte nichts zu geben als einen ewigen Kampf.“
Das ist ganz schön pathetisch und eine Kampfansage an die herrschende Gesellschaft: Ihr produziert Opfer, sagt Bärfuss. In Zeiten wachsender sozialer Ungleichheit kann man damit jemandem auf die Füße treten.
Und ein kleiner Nachtrag: In einer der ersten Rezensionen zum Buch weist Roman Bucheli in der Neuen Zürcher Zeitung darauf hin, dass es ein dramaturgisches Problem im Buch gibt – Nach der Zeitrechnung des Romans wäre Adelina mit zehn Jahren Mutter geworden – ein peinlicher Lektoratsfehler.
Nach dem zweiten Weltkrieg vertrödelt Adelinas Vater in der vorliegenden ersten Auflage Jahre mit Studium, Umzug und Familiengründung. Beim Lesen irritiert es tatsächlich, dass mehrfach eine Ausbildungs- oder Lebensstation des Vaters eingeschoben wird, bis die Heldin irgendwann doch endlich auf die Welt darf, auf eine Welt, die das Romanprojekt von Lukas Bärfuss beeindruckend scharfsichtig beschreibt. Gutes Buch, sehr interessantes Projekt.
Literatur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2019 an Lukas Bärfuss
Der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss erhielt am 2.11. in Darmstadt im Rahmen der Herbsttagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung den Georg-Büchner-Preis 2019.
Alexander Wasner sieht in Bärfuss einen „Vertreter einer individuellen Souveränität, ein Eidgenosse durch und durch. Er passt in die Liga von Dürrenmatt und Frisch, von Keller und Urs Widmer“.
Gespräch Lukas Bärfuss – Vaters Kiste. Eine Geschichte über das Erben
Eine Bananenkiste mit Rechnungen, Schuldscheinen und Gerichtsschreiben ist das Einzige, was Lukas Bärfuss von seinem Vater geerbt hat. Die Kiste macht der Schweizer Autor zum Ausgangspunkt, um unser Erbrecht und die Bedeutung der Herkunft zu hinterfragen.
Buchkritik Lukas Bärfuss - Malinois. Erzählungen
Der Büchner-Preisträger Lukas Bärfuss legt mit „Malinois“ zum ersten Mal Erzählungen vor – Geschichten aus 20 Jahren, geschrieben zu unterschiedlichen Anlässen. Der Band ist wohl kein Opus magnum des Schweizer Autors – aber doch ein interessantes Buch, das auf seine Hauptwerke verweist.
Rezension von Ulrich Rüdenauer.
Wallstein Verlag
ISBN: ISBN: 978-3-8353-3600-1
128 Seiten
18 Euro
Rezension von Ulrich Rüdenauer