Buchkritik

Benjamin von Stuckrad-Barre – Noch Wach?

Stand
Autor/in
Frank Hertweck

Mit maximaler Medienaufmerksamkeit begleitet und mit Höchstspannung erwartet: Ist „Noch wach?“ tatsächlich ein Schlüsselroman über den „Boysclub“ des Springerkonzerns und über die Machtmissbrauchsvorwürfe gegen den Ex-Chefredakteur Julian Reichelt? Ein engagierter, sehr lesenswerter Roman in jedem Fall!

Selten sorgte ein Buch im Vorfeld für mehr Aufregung

Selten hat ein Klappentext weniger übertrieben: Er verspricht einen Roman zwischen Los Angeles und Berlin, zwischen Weinstein-Skandal und der sich ausbreitenden MeToo-Bewegung. 

Eine schonungslose Aufklärung über den sexualisierten Machtmissbrauch in einem deutschen Medienhaus, in dem Karrieren von Frauen über Sex laufen, und er erzählt von einem Liegestuhlbeoachter im Garten des Chateau Marmont in LA, der plötzlich in einem Berliner Hotel zur Anlaufstelle gedemütigter Frauen wird.

Und selten hat ein Buch im Vorfeld mehr für Aufregung gesorgt, weil alle dachten, vermuteten, ahnten, spekulierten, das Medienhaus, um das es geht, das ist Springer.

Wenngleich im Roman ein populistischer Fernsehsender im Mittelpunkt steht, sein Chef entspräche dem CEO Matthias Döpfner, der Chefredakteur dem mittlerweile entlassenen Chefredakteur von BILD, Julian Reichelt.

Das erste Kapitel handelt von einer Männer-Geschichte

Mehr Werbung geht natürlich nicht. Eine brillante Kampagne, die einmal mehr beweist, dass man auch mit Moral Geld verdienen kann.

Das erste Kapitel, es heißt: „Dann müssen sich die Frauen auch nicht wundern“, führt ein wenig auf die falsche Spur, es ist aus der Perspektive einer betroffenen Frau geschrieben, die eine Chance bekommt im besagten Sender, der Chefredakteur scheint ganz vernarrt in sie, unterstützt sie, ist ganz anders als immer gesagt wird, ja, es scheint ernst.

Das klingt alles etwas naiv, unschuldig, arglos. Man hat den Eindruck, dieser Prolog soll die Erwartungen bedienen, aber dann geht es vor allem um Freundschaft, um die zwischen dem Schriftsteller, der uns die Geschichte erzählt, und dem Freund, dem Chef des Medienhauses.

Jener verachtet den Schmutz, den Dreck, den der Fernsehsender produziert. Und er verachtet den, den er dafür verantwortlich macht, den Chefredakteur. Was wir lesen, ist eine ganz klassische Männer-Geschichte, es gibt sie bei Shakespeare, bei Goethe, in Star Wars oder Herr der Ringe.

Eine Freundschaft im Zerfall

Es war einmal ein König, der hatte zwei Ratgeber, einen guten für den Geist, fürs symbolische Kapital, damit er als Schöngeist die üblen Machenschaften nicht sehen muss, die er doch zu verantworten hat und die ihm sein Reich sichern, und dann den bösen, in diesem Fall den, für den Journalismus bedeutet, in fremden Mülleimern zu wühlen, der Chefredakteur, der auch gern mal den braunen Rand bedient.

Und nun bewegt sich der Freund immer mehr von der hellen auf die dunkle Seite der Macht, und der Erzähler, der Narr des Königs, kann's  nicht verhindern, denn der CEO ist ins Gelingen verliebt, in Machterhalt, in Expansion, in Globalisierung. Nur der Mars gehört Elon Musk.

Szenen einer verfallenden Freundschaft, das bietet der erste Teil des Buchs, der Erzähler trauert, träumt den guten alten Zeiten hinterher, als der Chef noch einer von den Reinen war.

Ein zorniger, polemischer Roman

Ob das jemals stimmte, ist gar keine Frage, der Roman geht in der Perspektive des Erzählers auf. Und der ist unübersehbar gekränkt von der Abwendung. Ob nun der moralische Furor, die Wut auf den TV-Kanal dieser Kränkung entspringt, dem Gefühl, dass der Freund einem entgleitet, oder einem intakten ethischen Kompass, lässt der Roman klugerweise offen.

Moral steckt immer im Ressentiment und umgekehrt, das weiß Stuckrad-Barre. Darum tadelt sich der Erzähler immer wieder für talkshowhaftes Gerede und tugendhafte Rechthaberei. Dieser zornige und polemische Roman schreibt die Zweifel mit, das ist eine seiner Stärken. Sein Held will keiner sein.

Der zweite Teil des Romans verändert die Perspektive, das Buhlen und Hadern um den Freund tritt erst einmal in den Hintergrund, der Ich-Erzähler erfährt von neuen Missbrauchsfällen in der Chefredaktion des Senders. Eine Lawine scheint losgetreten.

Die Schilderungen sind von düsterer Präzision

Er und Sophia, die er von einer Selbsthilfegruppe Suchtkranker kennt und die ebenfalls im Sender arbeitet, die einschlägigen Erfahrungen mit dem übergriffigen Chefredakteur inbegriffen, sammeln die Geschichten, um endlich den Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen zu können.

Eine „Beschwerdehotline“ nennt sich der Erzähler einmal, eine „Betroffenen-Hotline“. Warum er, als Mann? Das fragt er sich immer wieder. Will er das? Kann er das? Jede der Frauen scheint zu glauben, weil er den Chef kennt, wären die Missbrauchsvorwürfe bei ihm gut aufgehoben.

Aber was dann? Er soll ja nichts sagen! Was Stuckrad-Barre hier an Unsicherheiten, Mut und Rückzug, Angst um den Arbeitsplatz, Sorgen um den Ruf, um Anonymität, die Gefühle der Demütigung, Kränkung, die Scham darüber, sich auf den Sex mit dem Chef eingelassen, das Peinliche, sich was Ernstes vorgemacht zu haben, ist von düsterer Präzision, der erzählerische Höhepunkt eine Videokonferenz mit den betroffenen Frauen, oder Opfern? Oder Belastungszeuginnen?

Ein Schlüsselroman mit Sicherheitsnetz

Dann hat man endlich mühsam eine Strategie gefunden, um die Anschuldigungen spektakulär öffentlich zu machen. Es kommt zu einem internen Compliance-Verfahren. Und wie in der schnöden Wirklichkeit bei der Bild-Zeitung 2021 so wird auch im Roman der Chefredakteur nicht entlassen, sondern im Unternehmen freigesprochen.

Also ganz wie im richtigen Leben. Und aus dem Freund wird der Ex-Freund.

Und ist das nun ein Schlüsselroman? Gegen die fast schon routinehafte Abwehr Stuckrad-Barres in einem Interview im SPIEGEL und trotz des Sicherheitsnetzes, das der Roman zu Beginn ausbreitet: „Dieser Roman ist in Teilen inspiriert von verschiedenen realen Ereignissen, er ist jedoch eine hiervon losgelöste und unabhängige fiktionale Geschichte.“, will er natürlich trotzdem kenntlich sein.

Darum ist er voll von Klarnamen, Lars Eidinger, Sophie Rois, Rose McGowan, während die Hauptpersonen keinen Namen tragen. So erzeugt man Dechiffrierungsdruck. Also ein Schlüsselroman.

Der Journalismus kam Stuckrad-Barre zuvor

Der auf den ersten Blick nur ein Problem hat: Er bietet einen Schlüssel zu einer Tür, die längst weit offensteht. Sein anekdotisches Entlarvungspotential ist gering.

Man stelle sich die Chatnachrichten von Matthias Döpfner, die die ZEIT veröffentlicht hat, stattdessen in seinem Kontext vor. Wir hätten einen perfekten Schlüsselroman bekommen. So hat der Journalismus der Fiktion ein wenig die Show gestohlen.

Der Roman stellt sich ganz anders zur Realität, denn in der Logik der Erzählung ist er ein Teil des Kampfes, von dessen Entstehung er berichtet. Which side are you on?

Ein moralischer, engagierter Roman

Ist dieser Kampf Fiktion, nein, es ist ein ganz realer. Der Text will engagierte Literatur sein. Er selbst ist der letzte Baustein des Ich-Erzählers in seinem Engagement gegen den sexualisierten Machtmissbrauch.

Und nach den bestürzenden Geschichten, die der Roman integriert, ist die Frage nach seiner Fiktionalität völlig irrelevant: Die Frage, ob das so passiert ist.

Die richtige Frage lautet: Wird das je so wieder passieren? Stuckrad-Barre hat einen lesenswerten, einen moralischen, einen engagierten Roman geschrieben, damit es das nicht tut!

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Frank Hertweck