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Maria Borrély – Mistral

Stand
Autor/in
Christoph Schröder

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Im Jahr 1929 schrieb die Lehrerin und Schriftstellerin Maria Borrély ihre Erzählung „Sous le vent". Die eindrucksvolle und poetische Schilderung der Landschaft der Haute-Provence und ihrer Bewohner ist nun in einer Neuübersetzung unter dem Titel „Mistral" erschienen.

Aus dem Französischen von Amelie Thoma
Kanon Verlag, 128 Seiten, 20 Euro
ISBN 978-3-98568-069-6

Die 1890 in Marseille geborene Maria Borrély veröffentlichte insgesamt vier Romane, deren Handlungen alle in der Provence angesiedelt sind. Den Anfang machte 1930 ein Buch, das unter anderem von Altmeister André Gide hoch gelobt und gefördert wurde und das jetzt in neuer Übersetzung wieder vorliegt: „Mistral" – Christoph Schröder.

Rau, vielgestaltig und fordernd für die Menschen, die in ihr leben und arbeiten – so beschreibt Maria Borrély die Landschaft der Haute-Provence. Die Autorin hat dort selbst viele Jahre gewohnt. Über die Schluchten und Wälder, die Flussläufe und Seen, die Lavendelfelder und Olivenhaine bläst der kalte, trockene Wind aus dem Norden, der Mistral, der dem Buch in der Neuübersetzung seinen Titel gibt. „Mistral“ ist weniger von einer stringenten, vorwärts treibenden Handlung bestimmt als von einer Aneinanderreihung von Bildern und Beschreibungen, die sich zu einem beeindruckenden Panorama verbinden. Die Menschen leben von der Landwirtschaft; die Jahreszeiten bestimmen den Rhythmus.

Im Mittelpunkt steht eine Familie namens Maurel. Costant, der Vater, bestellt die Felder; Norine, die Mutter, besorgt den großen Haushalt und kümmert sich um die vier Kinder. Marie, die älteste Tochter, geht Norine zur Hand. Die Eltern, so schreibt die Erzählerin, mögen Marie etwas mehr als die anderen Kinder. Ein Glückskind sei dieses überaus schöne Mädchen.

Die Protagonistin dieser schmalen, atmosphärisch ungemein wuchtigen und beeindruckenden Erzählung aber ist die Natur selbst. Für ihre Darstellung verfügt Maria Borrély über einen immensen Einfalls- und Vokabelreichtum. „Mistral“ ist ein Buch der Sinne. Die Farben, die „Blaumalerei“ des Himmels, wie Borrély es ausdrückt, die Schwüle vor einem Gewitter, die sengende Sonne im Sommer, die Schroffheit der Bergformationen, die Veränderung der Vegetation im Jahreskreislauf und immer wieder der Wind und die Wolken – all das gewinnt in „Mistral“ eine poetische Anschaulichkeit, die nicht einen Moment lang zur Idylle zu verkommen droht. Es ist verblüffend zu lesen, wie Maries rund 80-jähriger Onkel, der weder Fleisch isst noch Tiere hält und der die Grausamkeit der jagenden Bauern verachtet, den Wandel der Natur in den voran gegangenen Jahrzehnten beschreibt: Der Mensch, so sagt er, habe die Erde kaputt gemacht und das Klima verändert. Die Hochebenen seien kahl, das Land ausgetrocknet. Und das, wohlgemerkt, in einem Text, der im Jahr 1929 niedergeschrieben wurde.

Zunächst scheint nicht viel zu passieren, doch dann entwickelt Borrély aus einem Wimmelbild von täglichen Verrichtungen heraus eine so kurze wie unglückliche Liebesgeschichte: Marie, das vermeintliche Glücksind, verliebt sich erstmals in ihrem Leben. Der junge Olivier, dem ihre Liebe gilt, lässt sich zunächst auf Marie ein. Heimliche, verheißungsvolle Küsse werden ausgetauscht, doch dann verschwindet Olivier, der in einem der Nachbardörfer wohnt, so unversehens, wie er auch aufgetaucht ist. Es heißt, er sei für die Ehe mit der Tochter eines Großgrundbesitzers vorbestimmt worden. Auch das gehörte zu den archaisch anmutenden Usancen im frühen 20. Jahrhundert. Die Darstellung der recht einseitigen Liebesgeschichte zwischen Marie und Olivier gehört zu den eher kritischen Passagen dieses insgesamt großartigen Buchs. Maria Borrély schildert Maries Empfindungen in Bezug auf Olivier in Bildern, die der Natur entlehnt sind. Einer feministischen Lesart aber würde diese Beschreibung einer jungen Frau und ihres Körpers, der erstmals aufblüht und sich zu voller Pracht entfaltet, weil er von einem Mann angeschaut und sie selbst sich dabei begehrt fühlt, kaum noch standhalten.

Ob Marie an dieser unglücklichen Liebe tatsächlich zerbricht, wie es der Klappentext behauptet, oder ob Maria Borrély ihrer Figur am Ende nicht doch noch in zarten Andeutungen einen Ausweg anbietet, bleibt offen. Entscheidend für die literarische Qualität ist diese Frage allerdings nicht. In erster Linie ist Maria Borrély in „Mistral“ die eindrucksvolle Darstellung der wechselseitigen Prägung von Landschaft und Mentalität ihrer Bewohner gelungen. In dieser existentiellen Verbundenheit liegt die Zeitlosigkeit dieser Erzählung. Wie gut, dass sie wiederentdeckt wurde.

Stand
Autor/in
Christoph Schröder