Was Sie schon immer über die Netanjahus wissen wollten: Ein unterhaltsamer Roman mit manch derbem Witz, der die Enttäuschung seines Autors über die gegenwärtige Politik Israels nicht verbergen kann. Im Mittelpunkt: Benjamin Netanjahus Vater, manipulativer Historiker und radikaler Zionist.
Die Netanjahus? Ja, es geht wirklich um die Familie Netanjahu, nicht um Benjamin, den Unabsteigbaren, den ewigen Ministerpräsidenten Israels, obwohl der auch seine Rolle im Buch innehat, sondern um dessen Vater: Ben Zion Netanjahu, Historiker und entschiedener Propagandist eines radikalen Zionismus.
Erzählt werden die Geschehnisse von Ruben Blum, gerade emeritierter Professor der amerikanischen Geschichte, der zurückblickt auf die Zeit zwischen September 1959 und Januar 1960. Er ist Jude, aber erst einmal Amerikaner, assimiliert, ohne religiöse Ambitionen.
„Summa summarum: Den größen Teil meines Lebens (…) zog ich keine Kraft aus meiner Herkunft und nutzt jede Gelegenheit, sie zu ignorieren oder sie wann immer möglich zu leugnen.“
Aber weil die Umwelt nicht ganz so assimiliert ist, kommt der Dekan seiner Universität auf die Idee, Blum möge sich als Jude um den Jerusalemer Kollegen Ben-Zion Netanjahu kümmern, der sich auf eine Professur im Historischen Seminar in Corbindale beworben hat.
In den ersten Kapiteln erzählt Blum aus seinem Leben: von Verwandtenbesuchen, von den Demütigungen durch die reichen Schwiegereltern, die die Wahl ihrer Tochter nie ganz verstehen werden. Von den eigenen, altmodischen Eltern, die ihre rebellische Enkelin Judy auf den Pfad der religiösen Tugend zurückbringen wollen. Und paradoxerweise durch einen Unfall dafür verantwortlich sind, dass Judy sich endlich, heiß ersehnt, die Nase operieren lassen kann.
Und wie in „Moby Dick“, wo der große weiße Wal erst auftaucht, nachdem wir unendlich viel über ihn gelernt haben, so wird auch das Auftauchen von Ben-Zion Netanjahu in diesem Roman akribisch vorbereitet: durch zwei Schreiben an den Erzähler Ruben Blum - ein hymnisches Lob und eine entschiedene Warnung.
Dann erscheint Ben-Zion beziehungsweise zuallererst ein wüstengelber verrosteter Ford, dessen Frontpartie Blum an einen Menschen erinnert.
„Das Auto kam mit diesem dämlichen, niedlichen menschlichen Aussehen auf einen zu. So ein kläglicher, anhänglicher Blick, der einen fast vergessen ließ, dass der Hersteller ein Nazi war. Dieses Exemplar war besonders anrührend, denn das Gesicht, das es zeigte, war eingeschlagen. Der Kühlergrill fehlte, die verbeulte Chromstoßstange hing halb herunter und warf irgendwie den Schnee nach vor wie ein kraftloser Pflug. Aber vielleicht war das gar nicht Netanjahu. Zum Beispiel saßen zu viele Leute im Wagen. Mehr als eine Person war zu viel.“
Es ist die komplette Familie von Ben-Zion Netanjahu, die hier anrollt, die Frau und die drei Buben, unter ihnen auch Bibi, der mittlere Sohn.
Joshua Cohen zitiert als Motto aus einer Rede des revisionistischen Zionisten Wladimir Zeev Jabotinsky:
„Löscht die Diaspora aus, oder die Diaspora wird euch auslöschen.“
Und das scheint der Auftrag von Ben-Zion zu sein. Die entfesselte Familie ist nicht zu bremsen, fällt wie die sprichwörtlich armen Verwandten bei den Blums ein, während Ruben den Vorstellungsparcours an der Universität mit dem Kandidaten absolviert.
In seinen Vorträgen macht der allen klar, was er von der Diaspora hält. Juden, so Netanjahu, interessieren sich nicht für Geschichte, weil die Geschichte von den Herrschenden geschrieben wird, aber das waren die Juden nie. Und darum bleiben ihnen nicht die Fakten, sondern nur deren Interpretation.
Und die konstatiert nichts anderes als einen ewigen Antisemitismus, eine ewige Feindschaft durch Nichtjuden, eine ewige Bedrohung, wie sie schon die hebräische Bibel diagnostiziert.
Darum geht es dem Historiker Netanjahu paradoxerweise gar nicht um geschichtliche Ereignisse, sondern um Bestätigung und Propaganda für den Staat Israel, der diesen Teufelskreis unterbrochen hat.
Nur die Diasporajuden und damit Ruben Blum, die immer noch an Amerika glauben und an einen Fortschritt für die Menschen, haben das noch nicht verstanden.
„Das ist, was ich von amerikanischen Juden halte – nichts. Eure Demokratie, eure Inklusivität, euer Exzeptionalismus – nichts. Eure Überlebenschancen - absolut keine. Du, Ruben Blum, bist raus aus der Geschichte, Du bist vorbei und erledigt.“
In einem Essay hat Joshua Cohen von der wachsenden Entfremdung zwischen dem nach rechts driftenden Israel und den jungen amerikanischen Juden berichtet, aber man würde fehl gehen, den Roman nur als Buch zur Lage der Nation zu lesen.
Die politischen Spannungen sind das Sprungbrett, auf dem sich Joshua Cohen zu einer aberwitzigen Situationskomik aufschwingt, einer Melange aus Philip Roth und Woody Allen, eine wilde Screwball-Comedy, bei der kein Stein auf dem anderen bleibt.
Daher ist der Roman leichter lesbar als andere Texte von Cohen, er hat einen unglaublichen Schwung, er ist hinreißend erzählt. Sozusagen ein Cohen für Anfänger.
Und er behauptet eben nicht nur die propagandistische Geschichtsphilosophie eines Ben-Zion Netanjahu, sondern entfaltet sie: in einer Vorlesung über die Vertreibung der Juden 1492 in Spanien, als der Antisemitismus zum ersten Mal das Judentum nicht als Religion, sondern als Volk definierte – mit den tragischen Konsequenzen, dass eine Konversion nun auch nichts mehr nutzte.
„Wichtigste Bedingung dieses Vorgangs war lediglich, dass die Juden jüdisch blieben, weshalb sie, als sie zu konvertieren begannen – freiwillig, zum ersten Mal in ihrer Geschichte -, bestraft und streng ermahnt wurden, dass sie niemals etwas anderes sein könnten, als das, was sie ursprünglich waren.“
Blum hält das für Propaganda.
Und wir dürfen nicht vergessen: die Geschichte wird uns von ihm erzählt, der ja eben auch sein Interesse hat, seine Position als Diaspora-Jude zu rechtfertigen, nachdem ihn Netanjahu ganz schön unter Druck gesetzt hat.
Blum erinnert in seiner Naivität an einen anderen Bloom. Nein, nicht notwendig an James Joyce Leopold Bloom aus dem „Ulysses“, sondern eher an Thomas Manns Serenius Zeitblom aus „Doktor Faustus“, der nicht umsonst das Leben eines teuflisch Besessenen beschreibt.
Wenn es um literarische Verweise geht, kann man Joshua Cohen nicht überschätzen. Aber im Nachwort gibt er selbst einen Hinweis auf eine biographische Inspiration, nämlich einen Besuch bei Harold Bloom, dem großen jüdischen Literaturwissenschaftler und genialen Shakespeare-Experten. Der hatte einmal genau diese Aufgabe, sich um einen „obskuren israelischen Historiker namens Ben Zion Netanjahu“ zu kümmern.
Bei aller Leichtigkeit und derbem Witz, so bleibt in diesem Roman doch die Enttäuschung Joshua Cohens spürbar über die politische Entwicklung Israels, den Bedeutungsverlust des kosmopolitischen Zionismus der europäischen Gründer. Insofern hat auch er ironischerweise wie Ben Zion eine vergangene Geschichte beschrieben, die ganz in der Gegenwart verankert ist – aber eben als Schriftsteller und aus einer ganz anderen politischen Position.