Polly Flint heißt die eigenwillige Erzählerin, die uns zunächst ins England des frühen 20. Jahrhunderts führt. Am Ende werden ihre Erinnerungen acht bewegte Jahrzehnte umfassen.
Als Waise wächst Polly einsam bei zwei frommen Tanten auf und findet in Daniel Defoes Meisterwerk „Robinson Crusoe“ Trost und Halt. Das Buch wird zu ihrem Rettungsanker, ein Leben lang.
Gardam erzählt von der Aufbruchssehnsucht einer jungen Frau, die immer wieder gegen Konventionen verstößt - und schließlich selbst zum Schreiben findet.
In diesem Buch, hat Jane Gardam einmal gesagt, stehe alles drin, was sie zu sagen habe, und sie selbst halte „Robinsons Tochter“ für ihren besten Roman.
Die Erinnerungen der Erzählerin umfassen acht Jahrzehnte
Wer die Bücher von Jane Gardam liebt, wird da natürlich neugierig. „Robinsons Tochter“ führt uns zurück ins England des frühen 20. Jahrhunderts, und die Erinnerungen der Erzählerin Polly Flint werden am Ende acht bewegte Jahrzehnte umfassen. Als der Roman beginnt, ist Polly bereits Halbwaise:
Polly wird mit sechs Jahren in die Obhut ihrer Tanten übergeben
Der „Captain“ ist Pollys Vater. Er bringt die Sechsjährige in die Obhut ihrer ältlichen Tanten, in das etwas heruntergekommene, aber heimelige „Gelbe Haus“.
Zwar hübsch gelegen, wie eine Insel auf einem Hügel, direkt am Meer, aber umgeben von den weniger idyllischen Errungenschaften der industriellen Revolution, wie den Eisenstädten der Stahlindustrie.
Polly ist einsam, doch Sehnsucht macht sich in ihr breit
Die Verlassenheit und Einsamkeit des Kindes ist ein Grundmotiv des Gardam’schen Erzählens. Polly ist aber keine Charles Dickens-Waise, die von geizigen Fabrikanten geknechtet wird; die ledigen Tanten sind durchaus fürsorglich, nur eben etwas sonderbar und sehr fromm.
Illusionen, dass sie ein aufregendes Leben erwartet, macht sich Polly nicht. Aber die bohrende Sehnsucht nach mehr, nach Freiheit und Sinnlichkeit, wird stärker:
In Robinson Crusoe findet Polly einen Seelenverwandten
Polly ist fast dreizehn Jahre alt, als sie die Bibliothek des Hauses und darin Daniel Defoes „Robinson Crusoe“ entdeckt.
In ihm findet sie einen Leidensgenossen und Seelengefährten: Ein einsamer Gestrandeter, so wie sie! Polly wird daher noch viele Jahre – sowie Liebes- und Lebenserfahrungen – später sagen:
Der Schiffbrüchige wird zum Anker in Pollys Leben
Für die Erzählerin ist die Geschichte des schiffbrüchigen Robinson wie ein Anker im Leben, und Gardams Roman ist natürlich als Liebeserklärung an ein großes Werk der Weltliteratur zu lesen.
Doch vor allem erzählt er von der Aufbruchs-Sehnsucht einer jungen Frau, die ihre Wünsche und Träume ständig zügeln muss. Und die, weil sie gesellschaftliche Konventionen und Religiosität nicht akzeptieren mag, bald als „merkwürdig“ gilt.
Der Roman ist eine Hommage an die Literatur
Auch bei der Wahl ihres Lesestoffs ist sie eigen. Herz-Schmerz, Sentimentalität und die „Poesie der verschlungenen Seele“ wie etwa in den Romanen von Jane Austen liegen ihr nicht. Sie bevorzuge „große, klare Seelen“, wie Robinson, erklärt sie ihrem Jugendschwarm, dem dichtenden Studenten Paul.
„Robinsons Tochter“ ist eine Hommage an die Literatur – und spielt hintergründig und geschickt mit den Romanwelten der großen englischen Autorinnen und Autoren, von George Eliot über Jane Austen bis zu Dickens und Defoe.
Die Lektüre bietet der Protagonistin Halt und Zuflucht
Zwar überhöht Gardam die Kraft von Büchern stellenweise, aber dass die Flucht in fiktive Welten tatsächlich Polly Flints einzige Chance ist, ihr eigenes Leben gewissermaßen zu überleben, wird angesichts der Ereignisse immer plausibler.
Auch als die Menschen, zu denen sie sich hingezogen fühlt, durch die Wirren zweier Weltkriege nach und nach verschwinden, gibt ihr die Lektüre Halt. Und: Sie beginnt selbst zu schreiben:
Für Gardam selbst war das Schreiben ein Rettungsanker
Wenn Jane Gardam sagt, in diesem Roman stehe „alles drin, was sie zu sagen habe“, verweist sie auch auf ihr eigenes Leben. Denn auch für sie wurde das Schreiben einst zur rettenden Insel.
Das war, als sie sich in jungen Jahren mit ihrem Dasein als Hausfrau, Mutter und Ehefrau zufriedengeben sollte. „Robinsons Tochter“ ist voller abgrundtief komischer und tieftrauriger Dialoge.
Übersetzerin Isabel Bogdan hat ein tiefes Gespür für die Ausdruckswelt Gardams
Und wenn die ebenso musikalischen wie erkenntnisreichen Sätze von Jane Gardam mit einem lautmalerischen „plinker plonker pling“ enden, dann möchte man die Übersetzerin und Schriftstellerin Isabel Bogdan zu ihrer Arbeit beglückwünschen.
Sie hat ein tiefes Gespür für die Gedanken- und Ausdruckswelt von Jane Gardam, für das Abseitige und die Schrägheiten des Lebens.
Man möchte den Roman immer wieder lesen
Beide eint ihr Faible für absonderliche Charaktere und lebenswarme Geschichten, und ihr Sprachvermögen bringt die verborgenen Winkel des Lebens mit Witz und Ironie zum Leuchten.
Man möchte diesen Roman wieder und wieder lesen – so wie auch Polly Flint, Robinsons Tochter, Defoes Roman wieder und wieder liest.