Buch der Woche

Jane Gardam – Robinsons Tochter

Stand
Autor/in
Katrin Krämer

Polly Flint heißt die eigenwillige Erzählerin, die uns zunächst ins England des frühen 20. Jahrhunderts führt. Am Ende werden ihre Erinnerungen acht bewegte Jahrzehnte umfassen.

Als Waise wächst Polly einsam bei zwei frommen Tanten auf und findet in Daniel Defoes Meisterwerk „Robinson Crusoe“ Trost und Halt. Das Buch wird zu ihrem Rettungsanker, ein Leben lang.

Gardam erzählt von der Aufbruchssehnsucht einer jungen Frau, die immer wieder gegen Konventionen verstößt - und schließlich selbst zum Schreiben findet.

In diesem Buch, hat Jane Gardam einmal gesagt, stehe alles drin, was sie zu sagen habe, und sie selbst halte „Robinsons Tochter“ für ihren besten Roman.

Autorin Jane Gardam

Die Erinnerungen der Erzählerin umfassen acht Jahrzehnte

Wer die Bücher von Jane Gardam liebt, wird da natürlich neugierig. „Robinsons Tochter“ führt uns zurück ins England des frühen 20. Jahrhunderts, und die Erinnerungen der Erzählerin Polly Flint werden am Ende acht bewegte Jahrzehnte umfassen. Als der Roman beginnt, ist Polly bereits Halbwaise:

Meine Mutter war kurz vor meinem ersten Geburtstag gestorben, und die folgenden fünf Jahre hatte ich bei verschiedenen Pflegemüttern in Hafenstädten verbracht, in denen der Captain möglicherweise hätte anlegen können, das aber meistens nicht tat.

Polly wird mit sechs Jahren in die Obhut ihrer Tanten übergeben

Der „Captain“ ist Pollys Vater. Er bringt die Sechsjährige in die Obhut ihrer ältlichen Tanten, in das etwas heruntergekommene, aber heimelige „Gelbe Haus“.

Zwar hübsch gelegen, wie eine Insel auf einem Hügel, direkt am Meer, aber umgeben von den weniger idyllischen Errungenschaften der industriellen Revolution, wie den Eisenstädten der Stahlindustrie.

Es war 1904, und zwei Monate später starb mein Vater auf der Brücke seines Schiffs in der Irischen See (…). Er war immer ein schnurriger Typ gewesen, sagte Aunt Frances.

Polly ist einsam, doch Sehnsucht macht sich in ihr breit

Die Verlassenheit und Einsamkeit des Kindes ist ein Grundmotiv des Gardam’schen Erzählens. Polly ist aber keine Charles Dickens-Waise, die von geizigen Fabrikanten geknechtet wird; die ledigen Tanten sind durchaus fürsorglich, nur eben etwas sonderbar und sehr fromm.  

Illusionen, dass sie ein aufregendes Leben erwartet, macht sich Polly nicht. Aber die bohrende Sehnsucht nach mehr, nach Freiheit und Sinnlichkeit, wird stärker:

Es ist – Aunt, kann ich weggehen? Das möchte ich gerne. Die ganze Zeit. Es war mir nur bis jetzt nicht klar. Ich glaube, es ist, weil Vater Seemann war.

In Robinson Crusoe findet Polly einen Seelenverwandten

Polly ist fast dreizehn Jahre alt, als sie die Bibliothek des Hauses und darin Daniel Defoes „Robinson Crusoe“ entdeckt.

In ihm findet sie einen Leidensgenossen und Seelengefährten: Ein einsamer Gestrandeter, so wie sie! Polly wird daher noch viele Jahre – sowie Liebes- und Lebenserfahrungen – später sagen:

Alle lieben es! Robinson ist einfach ein Held, für jeden. Ich lache und weine beim Lesen. Die meisten Leute erinnern sich noch nicht mal, wann sie zum ersten Mal von Robinson gehört haben. Das ist der Test. Er war einfach schon immer da. Er ist so menschlich und gleichzeitig fast ein Gott.

Der Schiffbrüchige wird zum Anker in Pollys Leben

Für die Erzählerin ist die Geschichte des schiffbrüchigen Robinson wie ein Anker im Leben, und Gardams Roman ist natürlich als Liebeserklärung an ein großes Werk der Weltliteratur zu lesen.

Doch vor allem erzählt er von der Aufbruchs-Sehnsucht einer jungen Frau, die ihre Wünsche und Träume ständig zügeln muss. Und die, weil sie gesellschaftliche Konventionen und Religiosität nicht akzeptieren mag, bald als „merkwürdig“ gilt.

Der Roman ist eine Hommage an die Literatur

Auch bei der Wahl ihres Lesestoffs ist sie eigen. Herz-Schmerz, Sentimentalität und die „Poesie der verschlungenen Seele“ wie etwa in den Romanen von Jane Austen liegen ihr nicht. Sie bevorzuge „große, klare Seelen“, wie Robinson, erklärt sie ihrem Jugendschwarm, dem dichtenden Studenten Paul.

Wahrscheinlich, weil ich selbst ein offenes Buch bin, aber – ich mag rationale Menschen. Die Dinge tun.

„Robinsons Tochter“ ist eine Hommage an die Literatur – und spielt hintergründig und geschickt mit den Romanwelten der großen englischen Autorinnen und Autoren, von George Eliot über Jane Austen bis zu Dickens und Defoe.

Die Lektüre bietet der Protagonistin Halt und Zuflucht

Zwar überhöht Gardam die Kraft von Büchern stellenweise, aber dass die Flucht in fiktive Welten tatsächlich Polly Flints einzige Chance ist, ihr eigenes Leben gewissermaßen zu überleben, wird angesichts der Ereignisse immer plausibler.

Auch als die Menschen, zu denen sie sich hingezogen fühlt, durch die Wirren zweier Weltkriege nach und nach verschwinden, gibt ihr die Lektüre Halt. Und: Sie beginnt selbst zu schreiben:

Ich klammerte mich jetzt ziemlich verzweifelt an meine Insel. Ich machte mich an die Arbeit, Tag für Tag, ich war fleißig im Gelben Haus und benahm mich wie die personifizierte Abgeklärtheit. So ein Haus musste instandgehalten werden. Selbst mitten im Krieg war es nicht ungewöhnlich für eine Frau, sich um ein Haus zu kümmern. Außerdem erfand ich Arbeit. Jahre lang hatte ich die Schulzimmergewohnheit gepflegt, täglich an einem Tisch voller Bücher zu sitzen, und jetzt (…) fing ich selbst an zu schreiben. Ich begann natürlich mit Robinson Crusoe, das ich ins Deutsche zu übersetzen beschlossen hatte.

Für Gardam selbst war das Schreiben ein Rettungsanker

Wenn Jane Gardam sagt, in diesem Roman stehe „alles drin, was sie zu sagen habe“, verweist sie auch auf ihr eigenes Leben. Denn auch für sie wurde das Schreiben einst zur rettenden Insel.

Das war, als sie sich in jungen Jahren mit ihrem Dasein als Hausfrau, Mutter und Ehefrau zufriedengeben sollte. „Robinsons Tochter“ ist voller abgrundtief komischer und tieftrauriger Dialoge.

Übersetzerin Isabel Bogdan hat ein tiefes Gespür für die Ausdruckswelt Gardams

Und wenn die ebenso musikalischen wie erkenntnisreichen Sätze von Jane Gardam mit einem lautmalerischen „plinker plonker pling“ enden, dann möchte man die Übersetzerin und Schriftstellerin Isabel Bogdan zu ihrer Arbeit beglückwünschen.

Sie hat ein tiefes Gespür für die Gedanken- und Ausdruckswelt von Jane Gardam, für das Abseitige und die Schrägheiten des Lebens.

Man möchte den Roman immer wieder lesen

Beide eint ihr Faible für absonderliche Charaktere und lebenswarme Geschichten, und ihr Sprachvermögen bringt die verborgenen Winkel des Lebens mit Witz und Ironie zum Leuchten.

Man möchte diesen Roman wieder und wieder lesen – so wie auch Polly Flint, Robinsons Tochter, Defoes Roman wieder und wieder liest.  

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Autor/in
Katrin Krämer