Am 3. Juni jährte sich der Todestag des Schriftstellers und gebürtigen Pragers zum hundertsten Mal. Doch nicht nur Literaturhäuser und renommierte Kulturinstitutionen lassen den Jahrhundertautor hochleben. Die Gen Z hat den einst als eher sperrig geltenden Literaten neu für sich entdeckt. Seine Reflexionen über die Absurdität des Seins verarbeitet sie humorvoll in Memes und Reels auf Social Media.
TikTok-Hashtag #Kafka hat über 137 Millionen Aufrufe
Dass der Jurist und Versicherungsangestellte einmal zum TikTok-Star avancieren würde, hätte er selbst vermutlich am allerwenigsten gedacht – wurde doch der Großteil seines Werks erst nach seinem Tod von seinem Freund Max Brod veröffentlicht. Und das gegen Kafkas ausdrücklichen Willen.
Der Autor selbst hielt seine Werke nicht für gut genug, um sie der Öffentlichkeit zu präsentieren. Seine Selbstzweifel waren zu groß, sein Vertrauen in sein schriftstellerisches Vermögen zu gering. Paradox und tragisch zugleich – zählt Kafka doch heute zweifelsohne zu den bedeutendsten Vertretern der Prager deutschen Literatur und der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts überhaupt.
Nicht zuletzt liegt das an seinen zeitlosen, universellen Themen, die Menschen – insbesondere junge Menschen – immer wieder beschäftigen. Die Suche nach dem Sinn, der Kampf mit Autoritäten und der Wunsch nach Zugehörigkeit: All das sind Fragen, die vor allem in jungen Jahren prägen – und heute die Gen Z umtreiben.
Gen Z – Die wahren Digital Natives
Laut der Einteilung der Unternehmens- und Strategieberatung McKinsey & Company gehören zur Gen Z Menschen, die zwischen 1995 und 2010 geboren wurden. Seit frühester Jugend sind sie mit dem Internet und sozialen Netzwerken vertraut. Sie sammeln und teilen dort Gefühle, Meinungen und Informationen. Sie verbinden Offline-Erfahrungen nahtlos mit der virtuellen Welt.
In der Regel geschieht dies in den Medien in verknappter Form. Auf Social Media funktionieren kurze, prägnante Sätze, ansprechende Bilder und kurze Reels. Das ließe sich leicht als triviales Spiel mit Oberflächlichkeiten abtun – und manchmal ist es das auch. Aber längst nicht immer. Wer glaubt, TikTok drehe sich nur um skurrile Tänze oder süße Kätzchen, liegt falsch.
Kafka-Euphorie auf Instagram und TikTok
Tatsächlich lässt sich dort – neben vielen anderen Kulturthemen – auch eine jugendliche Kafka-Euphorie beobachten. Die neu entfachte Liebe zum Autor und seinem Werk beschränkt sich nicht auf den deutschsprachigen Raum. Weltweit greifen Jugendliche Kafkas Sätze, Themen und Stimmungen auf und adaptieren sie in Memes und anderen digitalen Formaten.
Das liegt unter anderem an Kafkas dichter, schnörkelloser Sprache, die dennoch vieldeutig bleibt. Unter Reels und Posts mit Kafka-Zitaten, die zum Nachdenken über die eigene Existenz anregen, finden sich tausende Kommentare. Viele erkennen in Kafkas Weltsicht ihre eigene wieder, fühlen sich verstanden und – noch wichtiger – zugehörig.
Kafkas Werk in einer Welt multipler Krisen
Verknappt formuliert wächst die Gen Z im Krisenmodus auf: Pandemie, Krieg, Klimawandel – vielschichtige Bedrohungen, die verständlicherweise ein Gefühl der Hilflosigkeit hervorrufen. Wie soll man als kleines Individuum mit diesen globalen Krisen umgehen oder sie gar lösen?
Zieht man diesen Aspekt in Betracht, wird schnell klar, warum Kafkas „Verwandlung“ besonders bei jungen Menschen beliebt ist. Mit der Figur des Gregor Samsa, der eines Morgens plötzlich als riesiger Käfer in seinem Bett aufwacht, können sich viele identifizieren.
Isoliert durch die Pandemie in ihren Kinder- und Jugendzimmern erlebte die Gen Z eine zunehmende Entfremdung von ihrer Umwelt. Der Kontakt über Teams und Zoom konnte das Gefühl der Isolation nicht mildern. Denn in dieser Zeit geht man normalerweise aus, lernt neue Menschen kennen und erprobt sich in sozialen Gefügen.
Kafkas Prozess: Ein düsterer Blick auf die Bürokratie
Nicht nur Gregor Samsa wird auf TikTok zu einer zentralen Identifikationsfigur. Auch mit der Situation von Protagonist K. aus Kafkas Romanfragment „Der Prozess“ können sich junge Menschen in den sozialen Netzwerken stark identifizieren. Wie K. kämpfen sie gegen eine undurchschaubaren und absurde Bürokratie an.
Bei der heutigen digitalen Bürokratie und modernen Kontrollsystemen scheitert der Zugang nicht selten bereits an einem vergessenen oder fehlenden Passwort. Ein realer Kontakt zu Menschen auf dem Amt? Immer häufiger Fehlanzeige. Stattdessen breitet sich auch hier ein Gefühl der Isolation aus. Man denke erneut an die Pandemie und die unsägliche Diskussion um die Corona-Hilfen für Studierende.
Literatur und Memes: Bildung oder Unterhaltung?
Und nun. Schmälert die meist humorvolle Adaption Kafkas auf TikTok seinen literarischen Wert? Schmückt sich die junge Generation lediglich mit existenzialistischen Kafka-Zitaten, einem Hauch von unbestimmtem Grauen und düsterer Attitüde? Ist Kafka nur ein stimmungsvolles Accessoire zur Selbstvermarktung auf Social Media?
Die Buchverkaufszahlen sprechen eine andere Sprache. Mit dem viralen Trend auf TikTok lässt sich beobachten, dass Kafkas Werke wieder häufiger gekauft werden. Inspiriert durch die leicht zugänglichen Memes fühlen sich viele junge Menschen erst ermutigt, sich undurchsichtigen Werken wie „Der Prozess“ oder „Die Verwandlung“ zu stellen.
Daneben freuen sich auch die Bibliotheken. Zuletzt beobachten auch sie, dass Kafkas Werke deutlich häufiger ausgeliehen werden. Das ist eine sehr erfreuliche Entwicklung, denn wer einmal den Weg in die Bibliothek gefunden hat, kommt meist auch wieder und entdeckt andere Autorinnen und Autoren.