Gedichte und ihre Geschichte

„Das zwölfte Gedicht“ - Michael Krüger war Poeta Laureatus am Literaricum in Lech

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Moderator/in
Kerstin Bachtler

Der Lyriker und ehemalige Verleger Michael Krüger war ein Jahr lang Poeta Laureatus der Literaturtagung „Literaricum“ in Lech in Österreich und hat in dieser Eigenschaft jeden Monat ein Gedicht geschrieben. Es fiel ihm nicht immer leicht, denn ihn belasteten unter anderem die Unruhen und Kriege der Gegenwart. Er hält es für notwendig, auch solche Ereignisse in seinen Texten abzubilden. Im monatlichen Literaturgespräch auf SWR2 spricht Michael Krüger darüber mit SWR-Literaturredakteur Alexander Wasner.

Das zwölfte und letzte Gedicht

Januar, Jänner. Jeden Morgen wird ein neues Spiel geprobt,
damit hier jeder seinen Auftritt hat. Nur die Amseln,
die im Bambus leben, sind als Komparsen immer gesetzt.
Heute das große Regen-Drama, das im April Premiere hat,
es dirigiert der kahle Ahorn, die beiden Trauerbirken tanzen
im Wind, die frierenden Haselsträucher bilden den Chor.
Und alle warten sehnsüchtig auf ihre neuen Kostüme.
Die zentrale Frage des Stücks, vom Chor gestellt, lautet:
Darf man von einem Sieg sprechen, wenn man noch nicht
verloren hat? Das Land ist verwüstet, die Häuser zerstört,
die Zukunft in Stücke geschlagen, dort, wo die Kirche
stand aus gutem Holz, zeugt noch ein Häufchen Asche
von ihrer einstigen Schönheit. Aber dann, gegen Mittag,
reisst der Himmel auf, wie es so schön heisst im Märchen,
und einen Moment lang zeigt sich die Sonne,
und auf den leeren Stecken des Hasel leuchten die Tropfen
wie Gold. Und einer, den keiner hier kennt, ein dürrer Bursche,
biegt ab von den unendlichen Strassen des Leids
und betritt von hinten die Szene und trägt eine Ode vor,
als hätte Pindar sich in unseren Garten verirrt.
Eine Ode auf die Schönheit in alkäischen Strophen
will er uns bieten, ein ganz und gar unverdientes Geschenk,
die Musik soll vom Bambus kommen wie früher üblich.
Ist das erlaubt? Der Chor äussert, wie üblich, Bedenken,
stimmt dann aber zu. Und während ich, hinter dem Fenster,
zuhöre, weiss ich, die Vögel kehren zurück, und die Ameisen
werden wieder die Uhren stellen, und die Schweigeminute
zum Gedenken der Opfer wird Jahre brauchen.
Das war er, der Tag im Januar, an den ich erinnern will.
Was zurückblieb waren, wie so häufig in dieser unklaren Zeit,
die Engel, kleine knorrige Typen in schmutzigen Kitteln
und mit rissigen Händen, die aufräumten und dem Sänger
einen Teller Suppe servierten und dann bei mir klingelten,
um den Ablauf des nächsten Tages zu besprechen.
Mit weit ausgebreiteten Armen liess ich sie ein.

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Kerstin Bachtler