Christoph Ransmayr liebt es zu verblüffen. So behauptet er etwa in der beeindruckenden autobiographischen Erzählung „An der Bahre eines freien Mannes“, dass niemand anderes als Kleists Gerechtigkeitsmärtyrer Michael Kohlhaas sein Vater sei. Die Irritation verliert sich, wenn man dann die Details aus dem Leben Karl Richard Ransmayrs liest.
Ransmayrs Vater als moderner Kohlhaas
Aus einfachsten ländlichen Verhältnissen stammend, schlug er das Angebot, eine NS-Eliteschule zu besuchen, ebenso aus wie die Offizierskarriere bei der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Und nahm dafür schwere Nachteile in Kauf: „Ich wollte unter diesen Leuten nichts werden“, erklärte er seinem Sohn haltungsstark. Jahre später – inzwischen Lehrer und stellvertretender Bürgermeister – erfuhr er eine unheilbare Kränkung seines Gerechtigkeitsgefühls, als er von gehässigen Mitbürgern angezeigt wurde und eine lange Untersuchungshaft auszustehen hatte.
Immer wieder werden die Ereignisse mit Formulierungen aus der Novelle „Michael Kohlhaas“ beleuchtet. Man kann Ransmayrs Vaterporträt, ein Höhepunkt des Erzählbandes „Als ich noch unsterblich war“, als Hommage auf Kleist lesen. Vor allem aber zeigt es, wie Literatur und Leben im Verständnis Ransmayrs eine geradezu chemische Verbindung eingehen.
Faszination für Entdecker, Verschollene und Gescheiterte
Ransmayrs Ton hat Autorität und Erhabenheit. Und seit je ist er fasziniert von den Entdeckern, insbesondere von den Verschollenen und Gescheiterten. Bereits sein Debütroman „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ aus dem Jahr 1984 inszeniert mit gefrorenem Pathos die Payer-Weyprecht-Polarmeerexpedition als selbstzerstörerisches Abenteuer auf der Suche nach Erleuchtung an den Rändern der Welt.
„Floßfahrt“ – eine der zwölf Erzählungen des neuen Bandes – bietet einen Extrakt dieses Romans, wobei das Floß der Eichentisch im Lesesaal der Österreichischen Nationalbibliothek ist, an dem der junge Autor die Karten und Dokumente für den Roman studiert.
Aus jener Zeit stammt auch das Langpoem „Strahlender Untergang“, das wohl nicht wegen seiner literarischen Qualitäten in den Band aufgenommen wurde. Sondern eher wegen der apokalyptisch-zivilisationskritischen Motive, die damals virulent waren und heute wieder sehr anschlussfähig an den Klimakatastrophendiskurs sind. Der Text imaginiert ein „Entwässerungsprojekt“ im makabren Sinn: In der Sahara wird ein riesiges „Terrarium“ geschaffen, wo in wissenschaftlicher Konsequenz die Menschheit unter der erbarmungslosen Sonne ausdörren und verdampfen soll.
Das „Vieh mit dem aufrechten Gang“ verwüstet die Welt
Das Szenario wirkt konstruiert, reizvoll aber ist die harsche Rhetorik, mit der Ransmayr den Abgesang auf die technische Zivilisation anstimmt und die weltverwüstende Spezies, das „Vieh mit dem aufrechten Gang“, in die Wüste wünscht, unter besonderer Hervorhebung des „Schwachpigmentierten“, der sich auf dem Rücken anderer Kulturen räkele und dem alles zur Herrschaft gerate.
In ungezwungener Bildsprache findet sich die Klage über die Sünden des weißen Mannes auch in der Erzählung „Mädchen im gelben Kleid“ aus dem Jahr 2019. Der vielreisende Ransmayr nimmt teil an einer Expedition von Berggorillaforschern im Grenzgebiet von Uganda, Ruanda und Kongo. Er beobachtet dort ein kleines Mädchen, das sich auf dem Weg zu seinem Dorf mit einem viel zu schweren Wasserkanister abschleppt. Er sieht aber auch ein solides Wasserrohr, das allerdings nur zu den Plantagen internationaler Firmen führt.
Einmal mehr zürnt Ransmayr über die Ausbeutung Afrikas durch den Westen, bevor seine europäische Seele im Angesicht eines gelassen Blätter kauenden Silberrückens halbwegs Frieden findet.
Vergangenheiten fixierend, ungeahnte Zukünfte ins Auge fassend, die Gegenwart transzendierend – ein solches Erzählen versteht Christoph Ransmayr als „Arznei gegen die Sterblichkeit“. Erfreulich, dass diese Arznei rezeptfrei im Buchhandel erhältlich ist, zum Beispiel im literarischen Zwölferpack dieses schmalen, aber reichhaltigen Erzählbandes.