Buchkritik

Familiendrama um Schuld, Vergebung und Inzest - Christoph Ransmayrs Roman „Der Fallmeister“

Stand
Autor/in
Wolfgang Schneider

Der mit vielen Preisen ausgezeichnete österreichische Schriftsteller Christoph Ransmayr schreibt nicht alle Jahre einen Roman. Nun aber gibt es nur vier Jahre nach seinem Roman „Cox“ wieder ein Buch von ihm zu lesen. „Der Fallmeister“ ist eine todesdunkle Familiengeschichte, in der das Wasser als lebensspendende und zerstörende Kraft zum Leitmotiv wird.

Ein Schleusenwärter mit dunklen Antrieben

Was ist ein Fallmeister? In Zusammenhang mit dem Untertitel „Eine kurze Geschichte vom Töten“ weckt die Berufsbezeichnung brutale Assoziationen: Man denkt vielleicht ans Fallbeil. Indes handelt es sich um einen Schleusenwärter, der den Wasserstrom an einem Wasserfall reguliert, ein uraltes Handwerk.

Der Fallmeister, von dem Christoph Ransmayr erzählt, ist allerdings ein jähzorniger Mann mit dunklen Antrieben. Bewusst öffnet er eines Tages die Schleusentore vor dem großen Wasserfall, als ein Boot gerade in der Durchfahrt ist.

„Der freigesetzte Wasserschwall verwandelte diese Gasse, einen schmalen, aus Lärchenbalken gezimmerten Kanal, in einen reißenden Abfluss. Ein darin eben noch driftendes, mit zwölf Menschen besetztes Langboot (…) schoss in jäher Beschleunigung zwischen bemoosten Felswänden talwärts. Dort, wo die Bootsgasse wieder in das alte Flußbett einmündete, ließ der Schwall das Langboot wie von einer Riesenfaust getroffen umschlagen und kieloben durch brodelnde Kehrwasserwirbel davontaumeln. “
Christoph Ransmayr, Der Fallmeister

Mehrere Insassen kommen ums Leben. „Mein Vater hat fünf Menschen getötet“, lautet der erste Satz des Romans. Es ist ein typischer Ransmayr-Einstieg: schicksalsschwer, gleich aufs Ganze gehend und von lakonischer Wucht. Ein erzählerischer Extremismus kündigt sich an, der mittlere Gefühllagen verschmäht und den Alltag nicht kennt.

Kindheit in einer beinahe märchenhaften Wasserwelt

Der Sohn des Fallmeisters ist der Ich-Erzähler des Romans. Zunächst berichtet er von seiner Kindheit und Jugend am weißen Fluss beim großen Fall. Es ist eine beinahe märchenhafte Wasserwelt irgendwo in der fiktiven mitteleuropäischen Grafschaft Bandon.

Allerdings geschieht bereits allerhand Irritierendes: Als Kind beginnt der Erzähler, mutwillig Tiere zu töten. Seine Mutter wird auf eine kriegsverwüstete Adria-Insel deportiert. Und in der Jugend spielt er Pharao und Pharaonin mit seiner Schwester Mira: Geschwisterliebe als Form der Exklusivität.

Mira leidet allerdings an der Glasknochenkrankheit. Ihr durch die Fragilität umso kostbarer Körper befeuert nur die Leidenschaft des Ich-Erzählers.

Eine Welt, die in lauter Scherben zerfallen ist

Exotische Schauplätze, extreme Erfahrungen und eine das Erhabene anklingen lassende Sprache – das sind essentielle Zutaten von Ransmayr-Romanen, und sie finden im „Fallmeister“ reichlich Verwendung. Das Buch beeindruckt durch eine außerordentliche Weltläufigkeit, auch wenn diese Welt in lauter Scherben zerfallen ist.

Norddeutschland steht unter Wasser, das Protektorat Holstein wagt den Aufstand gegen die Polis Hamburg, und vor Hannover wird ein hoher, sechzig Kilometer langer Wall errichtet, um die Stadt vor dem Untergang zu retten. Gleichzeitig herrscht an vielen Orten der Welt Knappheit an Trinkwasser, um das Kriege geführt werden.

Weltumspannende Größen sind nur noch die Wassersyndikate

Die größeren Länder sind verschwunden, es gibt stattdessen eine ungute Fülle an bissigen Kleinstaaten, Fürstentümern, Stammesgebieten und Clan-Bezirken – und je geschrumpfter das Territorium, desto fanatischer offenbar das Gefühl der eigenen ethnischen Überlegenheit.

In diesen Passagen bietet Ransmayr eine sarkastische Kritik am Nationalismus. Weltumspannende Größen sind nur noch die Konzerne, genauer: die Wassersyndikate.

„Klares, trinkbares oder zur Trinkbarkeit veredeltes Wasser war knapp und stand nur noch den Reichsten unbegrenzt zur Verfügung. Kein Rohstoff war wertvoller als Wasser, das von Hydrotechnikern gefördert, gespeichert und in verdorrte Landstriche gepumpt wurde.“
Christoph Ransmayr, „Der Fallmeister“

Ein Fluss, der während der Regenzeit seine Fließrichtung ändert

Der Erzähler arbeitet nach seinem Studium selbst als Hydrotechniker und gehört damit zur neuen globalen Elite der Wassersyndikate. Er ist einer der Spezialisten, die an den großen Strömen der Welt zum Einsatz kommen und die ungeachtet der vielen Grenzen und Kriege privilegiert von Kontinent zu Kontinent reisen.

So spielen einige Kapitel des Romans in Südamerika und Asien. Von besonderer symbolischer Bedeutung ist der Tonle-Sap-Fluss in Kambodscha, der die Eigenheit hat, während der Regenzeit durch den Wasserdruck aus dem Mekong seine Fließrichtung zu ändern.

Diese Umkehr wird vom Erzähler auch zeitlich gedeutet: als Rückfluss in die Vergangenheit. Eine solche Strömungsumkehr war demnach der Steinzeit-Kommunismus der Roten Khmer, jenes kambodschanische Schreckensregime, das im ganzen Land Schädelstätten hinterlassen hat. Beim Nachdenken über die Barbarei, zu der Menschen fähig sind, kommt der Erzähler wiederum auf die Wassermotivik:

„Wie dünn, möglicherweise bloß hauchzart war die Membran, die das Innerste eines friedlichen, Musik und Malerei, seine Kinder oder wenigstens sein Vieh liebenden Menschen von einer tief in ihm kauernden Bestie trennte? Und was musste geschehen, um diese Membran zu zerreißen, die Bestie aufzuscheuchen und einander völlig entgegengesetzte Möglichkeiten einer menschlichen Existenz wie in einem Kehrwasserwirbel ineinanderstürzen zu lassen?“
Christoph Ransmayr, „Der Fallmeister“

Das lesensewert-Quartett diskutiert über Christoph Ransmayrs Roman

Selbstmord am Wasserfall - nur eine geschickte Inszenierung?

Das zielt auch auf die vermeintliche Untat des Vaters als Fallmeister, für die der Erzähler ihn gerne zur Rechenschaft ziehen würde. Aber genau ein Jahr nach dem Unglück hat der Vater, vom Schuldgefühl gequält, Selbstmord am Wasserfall begangen. Allerdings gibt es auch Anzeichen, dass es sich dabei nur um eine geschickte Inszenierung handeln könnte. Mit dieser Lesart eröffnet sich Ransmayr später die Möglichkeit für ein überraschend positives Finale.

Bevor es allerdings so weit ist, setzt der Roman ganz auf Verdüsterung. In einer schweren narzisstischen Kränkung tötet der Erzähler selbst ausgerechnet den Menschen, der ihm der liebste auf der Welt ist: seine Schwester Mira, die sich seinem pharaonisch-inzestuösen Begehren zu entziehen versucht.

Es ist eine schreckliche, aber nicht wirklich anrührende, weil ziemlich ausgedacht wirkende Geschichte. Sie hat etwas von jener preziösen Morbidität, die Ransmayrs erlesene Prosa seit je in manchen Momenten zu gefährden droht.

Großartig: Passagen der Darstellung einer versunkenen Welt

Dicht geknüpft ist die Motivik des Romans. Sie ist bestimmt vom Wasser, seinem Wechselcharakter als lebensspendende und tödliche Kraft. Großartig sind viele Passagen im letzten Drittel, in denen die in Kriegen, Naturkatastrophen und Wasserwirren versunkene Welt dargestellt wird – magischer Surrealismus.

Kein Zweifel, Christoph Ransmayr ist ein außerordentlicher Schriftsteller, und auch sein neuer Roman beeindruckt durch die Beschreibungskunst und die suggestive visionäre Kraft.

Was ist eigentlich das zentrale Thema?

Insgesamt aber wirkt die Handlung etwas überkonstruiert und unfokussiert. Der titelgebende Fallmeister spielt über weite Strecken keine Rolle mehr, und es wird nicht recht deutlich, was eigentlich das zentrale Thema ist. Die Dystopie, womöglich als Folge des – nur an einer Stelle angedeuteten – Klimawandels? Oder der Wiederholungszwang des Tötens in einem Familiendrama um Schuld, Vergebung und Inzest?

Man hat den Eindruck, dass Ransmayr seine heterogenen Erzählstoffe hier nicht gänzlich überzeugend amalgamiert hat.

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