Nicht nur vor Gericht und auf hoher See, sondern auch beim Literaturnobelpreis ist man ganz offensichtlich in Gottes Hand. Mit Salman Rushdie hätten sehr viele Beobachter in diesem Jahr gerechnet; auf Haruki Murakami warten seine Fans seit vielen Jahren und mutmaßlich auch in Zukunft vergeblich. Stattdessen wurde die 1970 geborene Südkoreanerin Han Kang mit der Auszeichnung bedacht, was teils für Verwunderung, bei ihrer wachsenden Leserschaft hingegen für Begeisterung sorgte.
Ihr bekanntestes Buch, „Die Vegetarierin“, im Original 2007 erschienen, erzählt von einer Frau, die in Auflehnung gegen ihren Mann, ihre Familie und die streng traditionell verfasste südkoreanische Gesellschaft eines Tages beschließt, kein Fleisch mehr zu essen.
„Unmöglicher Abschied“ ist im Original vor drei Jahren erschienen. Der Roman verbindet die Erzählung einer Frauenfreundschaft mit einem historischen Ereignis, das zu den dunklen Flecken der koreanischen Geschichte gehört. Inseon hatte einen Unfall und liegt im Krankenhaus von Seoul. Sie bittet ihre Freundin Gyeongha, auf die Insel Jeju zu fahren, um sich dort um ihren Vogel zu kümmern. Dorthin, in ein einsam gelegenes Bergdorf, ist Inseon vor Jahren zurückgekehrt, um bei ihrer gebrechlichen Mutter sein zu können.
Gyeongha reist nach Jeju und gerät dort mitten in die Familiengeschichte ihrer Freundin hinein: Zwischen April 1948 und August 1949 töteten die südkoreanische Polizei und Armee mindestens 27 000 Bewohner beim so genannten „Jeju-Massaker“. Über Jahrzehnte hinweg war die Erinnerung an diese Gräueltat verboten; erst 1999 setzte die Regierung eine Untersuchungskommission ein. Han Kang beschwört die Geister der Vergangenheit, ohne dafür zu plumpen Gewaltdarstellungen zu greifen.