Rund 10 Millionen Menschen flüchteten 1971 aus dem heutigen Bangladesch nach Indien, die meisten von ihnen nach Kalkutta. So auch die Vorfahren der Autorin Alka Saraogi, die wiederum zur Bevölkerungsgruppe der Marwari zählt. In ihrem jüngsten Roman „Entwurzelt“ erzählt Saraogi eindringlich vom Schicksal dieser Menschen.
Kalkutta, im Jahr 1999. Wie so oft ist Kulbhushan für Botengänge im Auftrag seiner Brüder unterwegs. Heute aber ist etwas anders: ein Plakat lässt ihn innehalten.
Kulbhushan staunt. Denn der Schauspieler heißt wie er. Und so beginnt er, ein Hindu und Nachfahre einer eingewanderten Marwari-Handelsfamilie, sich zu erinnern: an seine ehemalige Heimat im heutigen Bangladesch, an seinen Freund Shyama – einen muslimischen Wäscher – und an den Fluss Gorai, der einst Teil seines Lebens und seiner Seele war.
Denn all das hat Kulbhushan verloren. Er ist „Entwurzelt“, wie auch der neue Roman von Alka Saraogi heißt: Während seine Brüder unmittelbar vor der Teilung 1947 auswanderten und in Kalkutta Fuß fassen konnten, verließ er die geliebte Heimat erst 1964, aufgrund von sich mehrenden Unruhen gegen Hindus.
Kulbhushan: Außenseiter und Underdog
Wirklich angekommen ist Kulbhushan nie. Im Gegenteil: Seine älteren Brüder betrachten ihn bis jetzt als Eindringling und nutzen ihn als ihren Diener aus.
Zwar hat er irgendwann geheiratet. Doch seine Frau ist keine Marwari. Seitdem meiden seine Brüder ihn noch mehr; sie fürchten, sich am Essen dieser Frau zu verunreinigen. Kulbhushans Vater wiederum überquert erst 1971 mit Millionen von Flüchtlingen die Grenze, als sich Bangladesch in einem Krieg gewaltsam von Pakistan lossagt.
Es ist dieser Krieg, in dem auch Kulbhushans einziger Freund Shyama sterben wird. Wie Kulbhushan ist er ein Außenseiter in der eigenen Familie:
Wie Kulbhushan widersetzt auch Shyam sich dem wachsenden Hass: Er nimmt eine hinduistische Witwe zur Frau und akzeptiert ihr ungeborenes Kind als seins.
Religiöse und kulturelle Grenzen
Alka Saraogi stammt selbst aus einer bengalischen Marwari-Familie und lebt heute in Kalkutta. Ihren Roman spannt sie über vier Jahrzehnte und über beide Seiten der Ost-West-Grenze Bengalens hinweg.
Dabei macht sie deutlich, dass es hier nicht nur um den Hass zwischen Hindus und Muslimen ging: Im Laufe der Jahre kam es auch zu Hass und Gewalt zwischen den Urdu-sprechenden Muslimen in Westpakistan und den bengalischen Muslimen, die in den Augen der pakistanischen Regierung als zu liberal und deshalb als minderwertig galten.
Der Operation Searchlight, 1971 vom damaligen Westpakistan aus gegen die Bevölkerung des heutigen Bangladesch durchgeführt, fielen rund 3 Millionen Bengalis zum Opfer.
Appell an die Gleichheit aller Menschen
Alka Saraogi lässt die damaligen kollektiven Traumata dabei so sensibel wie eindringlich zur Sprache kommen: In zahlreichen Nebensträngen springt die Handlung kunstvoll in der Zeit und zwischen Erzählperspektiven hin- und her. Mit einem begnadeten Auge für lebensechte Details erzählt sie zugleich vom ewigen Leid der Flüchtlinge: von Folter, Vergewaltigung, Diskriminierung und Vertreibung.
Und doch obsiegt in diesem Roman der grundlegende Glaube und der Appell an die Gleichheit aller Menschen, ungeachtet von Hautfarbe, Kaste, Klasse, Gemeinschaft oder Religion. „Entwurzelt“, hervorragend übersetzt von Almuth Degener, kartografiert somit ein komplexes Terrain der Geschichte – und könnte doch, angesichts der globalen Krisenherde, aktueller nicht sein.
Mehr Literatur aus Indien
Buchkritik Pankaj Mishra - Freundliche Fanatiker. Über das ideologische Nachleben des Imperialismus
Der Westen, schrieb unlängst ein britischer Meinungsführer, sei die "erfolgreichste politische Idee der Welt". Diese Haltung hat alte Wurzeln im Kolonialismus und Imperialismus. Der indische Autor Pankaj Mishra analysiert in seinem Buch "Freundliche Fanatiker. Über das ideologische Nachleben des Imperialismus", wie mit dieser Weltsicht weiterhin Meinungen und Politik gemacht werden.
Rezension von Eberhard Falcke.
Aus dem Englischen von Laura Su Bischoff und Michael Bischoff
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021, 304 Seiten, 24 Euro
ISBN 978-3-10397-077-7
Lesung und Gespräch Meena Kandasamy: Schläge. Ein Porträt der Autorin als junge Ehefrau
Sie ist eine gebildete Frau. Und sie ist Feministin. Trotzdem heiratet sie einen Mann, der sie schlägt. So ist es der indischen Autorin Meena Kandasamy passiert. Aus ihren Ehe-Erfahrungen hat sie einen Roman gemacht, der erzählt, was passiert ist, der aber auch mit allen Wassern der kritischen Reflexion gewaschen ist. Ein überaus scharfsinniges Werk.
Lesung + Gespräch mit Claudia Kramatschek
Aus dem Englischen von Karen Gerwig
Verlag Culturbooks
ISBN: 978-3959881487
22 Euro
Buchkritik Pankaj Mishra – Goldschakal
Drei junge Männer aus Indiens bitterarmen, unteren Kasten schaffen es an eine Elite-Uni. Einer wird in den USA zum Milliardär, der zweite ein Global Player im Literaturbetrieb. Der dritte hat als Übersetzer sein gutes Auskommen und lebt in einem Provinznest. Nun ist er um die Fünfzig und beschreibt, warum letztlich alle drei an ihrem gesellschaftlichen Aufstieg zerbrechen.
Aus dem Englischen von Jan Wilm
S. Fischer Verlag, 415 Seiten, 26 Euro
ISBN 978-3-10-397156-9