Verbotene Liebe im kolonialen Ostafrika: In seinem Roman „Die Abtrünnigen“ erzählt Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah von zwei skandalösen und daher unglücklichen Lieben. Und er erzählt von einer Migration von Sansibar nach England und dem damit verbundenen Trennungsschmerz.
Abdulrazak Gurnah wurde 1948 in Sansibar geboren und lebt in England. Den Höhepunkt seines schriftstellerischen Ruhmes erlebte er 2021 mit der Verleihung des Nobelpreises für Literatur. Er hat eine ganze Reihe von Romanen geschrieben, die jetzt nach und nach neu ins Deutsche übersetzt werden. Heute erscheint sein Roman "Die Abtrünnigen" - Katharina Borchardt.
Warum kann man nicht einfach bei denen bleiben, die man liebt? Heute trennen sich Paare wegen Alltagsnerv und Psychostress. Es sind zumeist Individualprobleme. Bei Abdulrazak Gurnah aber ist das anders. Da sind die Abtrünnigkeitsgründe größer.
Kolonialismus und Rassentrennung
Gerade ist sein Roman „Die Abtrünnigen“ in einer überarbeiteten Neuausgabe erschienen. Ein Roman, in dem viel Liebe kleingehackt wird. Meist liegt’s an Kolonialismus und Rassentrennung, aber auch an den guten Sitten, wozu im ostafrikanisch-muslimischen Kontext das Wegschließen der Frauen gehört.
Kurzum: Politik und Moral sind schuld, also überindividuelle Ordnungssysteme. Auch Migration wirkt trennend, etwa die Übersiedlung des sansibarischen Erzählers Rashid zum Studium nach England.
Der Roman umfasst drei große Erzählteile:
Rehanas verbotene Liebe im kolonialen Ostafrika Ende des 19. Jahrhunderts
Alles beginnt mit einem Mzungu – einem Weißen – namens Pearce. Der bricht im Jahr 1899 dehydriert auf den Stufen der Moschee eines ostafrikanischen Küstenstädtchens zusammen. Die Familie des ortsansässigen Gebetsrufers päppelt Pearce wieder auf.
Er verliebt sich in dessen Schwester Rehana und sie sich in ihn. Was zunächst zu heimlichem Liebesglück und dann zu bösen Komplikationen führt. Die Frau ist gefallen, der Orientalist Pearce mit neuem Erfahrungsschatz schon bald zurück in England.
Ein Kapitel, das den Rassismus der Engländer voll auserzählt, dies aber auf vollendet britische Art: elegant und – wo nötig – leicht maliziös. Schlau, dieser Gurnah: Hier schlägt er das Empire mit seinen eigenen rhetorischen Mitteln.
Rehanas Enkelin in den frühen 1960er Jahren auf der vorgelagerten Insel Sansibar
Die anderen beiden Romanteile aber klingen anders, auch elegant, ja, aber sanfter, intimer, mitfühlender. Es sind Familienkapitel. Wir überspringen eine Generation und landen in den frühen 1960er Jahren auf der vorgelagerten Insel Sansibar. Dort verliebt sich der Student Amin nun wiederum in Rehanas Enkelin, die ebenfalls ein Hauch von Skandal umweht.
Weil sie im Familienanwesen auf eine Einliegerwohnung mit separatem Eingang besteht. Das trägt ihr keinen guten Ruf ein, der ohnehin noch immer unter dem Sündenfall der Großmutter leidet. Also hat auch Amins große Liebe aus Schicklichkeitsgründen keine Zukunft.
Amins jüngerer Bruder Rashid migriert von Sansibar nach England
Im dritten und letzten Teil kommt nun Amins jüngerer Bruder Rashid zu Wort. Eine Ich-Perspektive. Rashid arbeitet als Schüler darauf hin, an einer englischen Universität zu studieren. Was ihm auch gelingt. Kurz vor Sansibars Unabhängigkeitserklärung reist er ab nach London, studiert, promoviert, zieht nach Südengland und kommt nie mehr zurück.
Darin ähnelt er Abdulrazak Gurnah selbst sehr stark, der ja auch in den 60ern von Sansibar übersiedelte und bis zu seiner Emeritierung 2017 an der Universität Kent lehrte. Er lebt in Canterbury, küstennah.
Ein Roman voller „Abtrünniger“ ist dieses Werk also
Ein Drei-Generationen-Roman, der ostafrikanische Kolonialgeschichte erzählt und großartig schillernde Charakterporträts zeichnet. Ein Roman auch voller Trennungsschmerz. Zugleich hat Gurnah das Ganze außergewöhnlich konstruiert.
Die Kapitel über den Engländer Pearce und über Rashids Bruder Amin sind aus allwissender Perspektive erzählt, wirken dadurch stark gesetzt, geradezu wasserdicht. Im letzten Teil aber spricht Rashid selbst, und er gibt sich als Autor der vorherigen Kapitel zu erkennen, wodurch er ihnen in ihrem souveränen Allwissen nachträglich ein bisschen Unsicherheit beimischt, sie aber auch innerfamiliär auffängt.
Vergangenheit und Gegenwart in engem wechselseitigem Bezug
Das ist klug gemacht, zumal der gealterte Amin seine Geschichte in einem Brief an Rashid auch noch ein Stück weitererzählen darf. Rashid schließlich wird als Literaturdozent seinem Erzählen auf einer wissenschaftlichen Tagung einen diskursiven Rahmen geben. Vergangenheit und Gegenwart stehen hier also in engem wechselseitigem Bezug. So ist diese Geschichte voller Abtrünniger auch die eines doppelten erzählerischen Umfangens. Genial.