Aufregung um eine Schmähgeste mit Mittelfinger

„Du kannst mich mal“ – Kulturgeschichte des Stinkefingers

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Autor/in
Sophia Volkhardt
Sophia Volkhardt

Sängerin Madonna, Country-Legende Johnny Cash, Ex-Finanzminister Peer Steinbrück und noch ein Ex-Finanzminister: Yanis Varoufakis – oder der doch nicht? All diese Prominenten haben für einen kleinen oder großen Skandal gesorgt: mit einer ganz kleinen Geste, die große Wirkung hatte, mit dem Stinkefinger direkt in die Kamera. Die Geschichte der Schmähgeste ist so alt wie unsere Kultur – schon in der Antike kam sie zum Einsatz.

Der Stinkefinger: Seit den Alten Griechen bekannt

Ein „hochgestreckter Mittelfinger, der einer Person – mit dem Handrücken auf sie zu – gezeigt wird, um auszudrücken, dass man sie verachtet, von ihr in Ruhe gelassen werden will“ – so kompliziert wird der Stinkefinger seit 1996 im Duden definiert.

Dabei versteht eigentlich jeder diese Geste sofort: Das Gespräch ist beendet, hier soll bewusst gegen die üblichen Benimmregeln verstoßen werden. Ganz egal, ob auf dem politischen Parkett, im Straßenverkehr oder auf dem Fußballplatz.

Der unschuldige Finger wurde im Laufe der Zeit immer obszöner

Schon immer hatte der Mittelfinger etwas Unliebsames. Ursprünglich trugen Ärzte mit dem längsten Finger ihre Salben auf, weil sie damit tiefer in jede Körperöffnung kamen.

Aber das obszöne Image des eigentlich unschuldigen Fingers wurde im Laufe der römisch-griechischen Antike immer deutlicher beschrieben: Schon Diogenes in seiner Tonne vor knapp 2.500 Jahren soll Reisenden in Athen, die sich nach seinem berühmten Kollegen, dem Redner Demosthenes erkundigten, den Mittelfinger vorgehalten haben – mit dem Kommentar: „Da habt ihr euren Demagogen“. 

Skulptur L.O.V.E. („libertà, odio, vendetta, eternità“, d. i. ‚Freiheit, Hass, Rache, Ewigkeit‘) des italienischen Künstlers Maurizio Cattelan aus Carrara-Marmor.  2010 wurde sie vor der Börse in Mailand errichtet und eine zum römischen Gruß ausgestreckten Hand alle Finger bis auf den ausgespreizten Mittelfinger abgetrennt wurden, um den Faschismus zu karikieren
Starkes und polarisierendes Symbol seit der Antike: 2010 sorgt die Skulptur L.O.V.E. aus Carrara-Marmor („libertà, odio, vendetta, eternità“, zu deutsch: ‚Freiheit, Hass, Rache, Ewigkeit‘) des italienischen Künstlers Maurizio Cattelan vor der Mailänder Börse für Diskusionen. Sie zeigt eine zum römischen Gruß ausgestreckte Hand, bei der alle Finger bis auf den Mittelfinger abgetrennt wurden.

Der „unkeusche Finger“ digitus impudicus

Laut dem inzwischen verstorbenen Stuttgarter Kulturanthropologen Reinhard Krüger, der der Geschichte des Stinkefingers 2016 ein ganzes Buch widmete, hat der Mittelfinger einen sexuellen Ursprung.

Der „unkeusche Finger“, digitus impudicus, galt als Phallussymbol – eine der ersten bildlichen Darstellungen findet sich auf einer Urne eines römischen Gladiators – wohl als Zeichen von Potenz.

Eigentümlicherweise verschwindet der Stinkefinger dann mehr oder weniger für mehrere hundert Jahre – bis er auf der anderen Seite der Welt wieder auftaucht.

Im 20. Jahrhundert erlebt der Mittelfinger eine Renaissance

1886 entsteht eine legendäre Aufnahme der Baseball-Mannschaft Boston Beaneaters. Vor ihrem Spiel gegen die New York Giants steht ein Fototermin an, auf dem der Bostoner Werfer Charles Radbourn bei ganz genauem Hinsehen dem Gegner den Mittelfinger – im englischen schlicht „the finger“ – zeigt. Das erste fotografische Zeugnis.

Aber wie hat es die Geste denn jetzt in die USA geschafft? Historiker vermuten: Italienische Immigranten haben den Schmähfinger importiert.

Im 20. Jahrhundert erlebt der Stinkefinger dann wirklich öffentlichkeitswirksam seine Renaissance. Allerdings: Bekannt war er damals vor allem in der westlichen Welt.

1968 wird das besonders deutlich, als US-Seeleute eines gekaperten Spionageschiffs in Nordkorea gefangen gehalten werden und auf Propaganda-Aufnahmen immer wieder ihre Mittelfinger in die Kamera halten. In Asien versteht man die Bedeutung nicht. Die Gefangenen kommen am Ende frei.

Fans zeigen dem DFB 2019 kollektiv den Mittelfinger, Anlass sind Montagsspiele
Nicht erst seit Effe im Sport ein beliebtes Schmähsymbol: 2019 zeigen Fans dem Deutschen Fußballbund einen kollektiven Stinkefinger und protestieren damit gegen Montagsspiele.

Der „Effe-Finger“ überdauert Effenbergs Fußballkarriere

In den 1960ern geht eine Aufnahme von Johnny Cash um die Welt: Der Country-Veteran spielt im Gefängnis San Quentin und formt, als ihm der Fotograf zu nahe kommt – passend zum ausgestreckten Mittelfinger – mit den Lippen ein scharfes „Fffff“ – und mit dieser Botschaft kann sich wohl auch ein Großteil seines ungewöhnlichen Publikums identifizieren.

In Deutschland gilt hingegen lange Stefan Effenberg als der „Urvater“ des öffentlichen Stinkefingers. Nach einem bescheidenen Fußballspiel während der WM 1994 zeigt der Spieler den unzufriedenen Fans den Mittelfinger – und wird direkt nach Hause geschickt – der „Effe-Finger“ überdauert Effenbergs Fußballkarriere.  

Peer Steinbrück: Karriere-Knick durch einen Finger

Über einen Karriere-Knick mit nur einem Finger wird knapp 20 Jahre später bei Kanzlerkandidat Peer Steinbrück diskutiert. Nur eine Woche vor der Wahl veröffentlicht das SZ-Magazin ein Interview ohne Worte – aber mit Fotos – vom ihm.

SZ-Magazin-Titel mit Kanzlerkandidat Peer Steinbrück, der den Mittelfinger zeigt
Bedeutete der Finger das Aus für den Kanzlerkandidaten? Jedenfalls diskutierte Deutschland über Steinbrücks emotionale Geste im SZ-Magazin.

Die Frage: „Pannen-Peer, Problem-Peer, Peerlusconi – um nette Spitznamen müssen Sie sich keine Sorgen machen, oder?“ quittiert er mit dem Stinkefinger. Wir erinnern uns: Kanzler wurde er nicht. Später sagt er in der Sendung 3nach9 gegenüber Giovanni di Lorenzo: „Es war ein Fehler.“

Peer Steinbrück in 3nach9 zu seinem Mittelfinger im SZ-Magazin:

Hat Varoufakis ihn gezeigt oder nicht?

Eine Riesendebatte löst auch 2015 ein Stinkefinger aus – von dem keiner so genau weiß, ob er echt oder fake ist.

Es geht um den Finger des damaligen griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis – in einem Video, das bei einer Tagung entstanden ist, soll er Deutschland den Mittelfinger gezeigt haben. Er sagt, das sei aus dem Zusammenhang gerissen und Manipulation. 

Der Übeltäter in der Stinkefinger Affäre ist schnell gefunden: Satiriker Jan Böhmermann behauptet, er hat das Video für seine Sendung verändert. Kurze Zeit später heißt es: der behauptete Fake ist Fake. Da soll noch einer durchblicken.

Jan Böhmermann im Neomagazin Royal zur Causa Varoufakis: 

Varoufakis and the fake finger #varoufake | NEO MAGAZIN ROYALE mit Jan Böhmermann - ZDFneo

Ganz egal, ob der Mittelfinger jetzt echt war oder nicht, die Politikberichterstattung überschlägt sich und stürzt dann in eine tiefe Krise. Was ein Stinkefinger alles kann …

 

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