Publizistin Jagoda Marinić im Gespräch

Jagoda Marinić zum Abstimmungsverhalten der CDU im Bundestag: „Die Konservativen schlagen in das Herz dieses Landes“

Stand
Das Interview führte
Julian Burmeister
Interview mit
Jagoda Marinić

Von Demos in zahlreichen Städten bis zu einem Brandbrief von Kulturschaffenden: Das Entsetzen über die Abstimmung zum Migrationsgesetz im Deutschen Bundestag ist groß. Die Publizistin Jagoda Marinić mahnt, dass es nun an der CDU/CSU liege, dass das Land nicht nach rechts driftet.

Nach der Abstimmung im Bundestag über die Anträge der CDU/CSU zur Migrationspolitik haben aufgebrachte Kulturschaffende in einem Brandbrief veröffentlicht:

Die Union, gefolgt von FDP und BSW, droht, die ohnehin bröckelnde Brandmauer gänzlich einzureißen, indem sie für ihre Pläne zur Sicherheits- und Migrationspolitik die Zustimmung der AfD und eine faktische Zusammenarbeit mit dieser in weiten Teilen rechtsextremen Partei in Kauf nimmt.

500 Unterschriften stehen bereits unter diesem Brief. Und tatsächlich ist das Entsetzen darüber, was im Deutschen Bundestag passiert ist, groß – nicht nur unter Kulturschaffenden. Tausende Menschen haben seitdem in deutschen Städten demonstriert.

Was passiert da gerade? Wie können, wie sollten wir zum Erhalt der Demokratie darauf reagieren? Die Publizistin und Autorin Jagoda Marinić erklärt im Interview, wieso dieser Schulterschluss nicht normalisiert werden darf.

CDU-Chef Friedrich Merz sitzt an seinem Abgeordnetenplatz im Bundestag
Für den Politikwissenschafter Albrecht von Lucke hat Unionsfraktionschef Merz in dieser Woche großen Schaden angerichtet.

Frau Marinić, wie haben Sie sich nach der Abstimmung über die CDU/CSU-Anträge zur Migrationspolitik gefühlt, die dann schließlich mit AfD- und BSW-Stimmen angenommen wurden?  

Mich hat es, wie jeden politisch Denkenden und jeden Demokraten, tief betroffen gemacht zu sehen, wie die CDU-Fraktionsmitglieder auf den Boden sahen und spürten, was sie gerade getan haben, während die AfD klatschte. Da wusste jeder, was gerade passiert ist: Dass sie das als Erfolg verbuchte gegenüber einer Demokratie, die seit Jahren verteidigt wird.  

Nach dem Jubel von Rechtsaußen in den sozialen Medien, kam das Gefühl auf, in einer Minderheit zu stehen. 

Es ist keine Minderheit. Die Mehrheit der Menschen hat andere Sorgen, als die, die Friedrich Merz auf die Agenda gesetzt hat. Sie sorgen sich auch über die Migration, aber die Wirtschaft und soziale Gerechtigkeit sind wichtigere Themen. Und die Mehrheit hat auch bisher nicht die Partei gewählt, die am Ende geklatscht hat.  

„Die Gesellschaft verändert sich gerade, sie fühlt sich ängstlicher und kälter an”, schreibt der SZ-Kollege Philipp Bovermann am Morgen nach der Abstimmung. Nehmen Sie das auch so wahr? 

Für mich war das eine Zäsur. Für Menschen, die eine Einwanderungsgeschichte haben, war das ein Zeichen des Alleinlassens. Bei allem, was man an ihrer Politik kritisieren kann, hatte Angela Merkel es geschafft, eine Kanzlerin für alle Menschen zu sein – für alle Deutschen und für alle, die in Deutschland leben. Sie wollte einen Zusammenhalt schaffen, das war ihre Politik.  

Mittwoch wurde klar, dass es einen Bruch gibt, ähnlich wie man ihn in den USA sieht. Es tat weh, von den Konservativen auf diese Art verlassen zu werden, weil man möchte, dass sie sich zu den Menschen bekennen, die dieses Land mit aufbauen.

Die Konservativen schlagen in das Herz dieses Landes, in alle diejenigen, die es am Laufen halten. Es ist nicht nur kälter oder ängstlicher geworden, sondern für viele auch existenziell bedrohend.  

Natürlich muss man Gesetze durchsetzen, natürlich gibt es bei der Migration viele ungelöste Probleme. Aber gerade im Wahlkampf machen die Konservativen eine Linie auf, die eine Lösungsfähigkeit in diesem Land eher senken als erhöhen wird.  

Ein Bruch geht durch die Gesellschaft, wie Sie sagen: Was genau passiert da gerade, driftet der Konsens nach rechts? 

Ich glaube, dass es die Konservativen in der Hand haben, ob es nach rechts driftet oder nicht. Wenn sie sich nun bei der Gesetzesverabschiedung anders entscheiden als bei der Antragsabstimmung, dann schicken sie eine eindeutige Botschaft.  

Friedrich Merz wurde eigentlich verhöhnt, als der AfD-Abgeordnete ihm dankte und sagte, seine Partei werde damit vorangehen, die CDU hinterher. Da wurde gezeigt, was Merz bevorsteht. Er hat nicht verstanden, mit der Zeit zu gehen. Bei diesem Wahlkampf hätten wirtschaftliche und soziale Fragen die zentralen Themen sein müssen. 

Ex-Kanzlerin Angela Merkel spricht beim Neujahrsempfang der CDU.
Fällt dem Kanzlerkandidaten der eigenen Partei in den Rücken? Dass Ex-Kanzlerin Angela Merkel sich zu Friedrich Merz und der Abstimmung im Bundestag äußerte, überraschte viele.

Angela Merkel hat Merz gestern eindeutig kritisiert. Merz habe „sehenden Auges“ eine Mehrheit mit der AfD ermöglicht, sagte sie. Wird das die CDU/CSU aufrütteln?

Es gibt eine liberale Mitte in diesem Land. Die CDU/CSU sperrt sich derzeit dem GEAS, dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem, das europaweit die Asylverfahren standardisieren soll. Die Partei zieht eine Show ab: Das heißt, diese Gesetze, die gerade so emotional diskutiert worden sind, werden wahrscheinlich nie umgesetzt werden.

International hieß derweil die Schlagzeile: Der Kanzlerkandidat sucht den Schulterschluss mit den Rechten. Natürlich fragt man sich da: Mit was für einem Kanzler wollen wir da in die Zukunft gehen? 

Stichwort „aufrütteln“: Wie sollten wir auf die Provokationen von rechts reagieren? In Ihrem jüngst erschienenen Buch „Sanfte Radikalität“ plädieren Sie für einen Abschied von der Wutpropaganda auf Instagram oder X. Wie können wir stattdessen handeln, um eine Gesellschaft zu schaffen, die die Menschenwürde aller achtet? 

Ich würde jetzt mehr denn je für eine sanfte Radikalität plädieren. Ich bitte auch die Konservativen, miteinander zu reden – dass sie die Diskussion in ihre Partei bringen. Ich wünsche mir von der Ampel-Regierung eine Aufarbeitung ihrer Fehler. Das Schielen dieser Politiker auf Macht, das die Menschen sehen, nimmt ihnen das Vertrauen in die Politik und die Demokratie.

Dass die erhofften Lösungen nicht umgesetzt wurden, liegt in der Verantwortung der Ampel. Wenn sie diese übernehmen würden, dann würde das Potenzial, das die AfD hat, schmelzen.

Ich plädiere dafür, Stand zu halten und die Konservativen daran zu erinnern, dass es eine gemeinsame Demokratie ist, und dass wir sie brauchen. Das, was gerade passiert, ist nicht normal. Das sehen wir auch daran, dass sich Merkel eingeschaltet hat. Es darf nicht normalisiert werden, was gerade passiert ist.

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Forum Wenn die Brandmauer bröckelt – Wie stark ist die Demokratie?

Norbert Lang diskutiert mit
Jagoda Marinić, Schriftstellerin und Kolumnistin
Prof. Dr. Wolfgang Merkel, Politikwissenschaftler
PD Dr. Veith Selk,Politikwissenschaftler

Gespräch Jagoda Marinić über „Sanfte Radikalität“: „Was bringt es mir, Menschen anzuschreien?“

„Wut per se ist nicht schlecht“, sagt die Autorin Jagoda Marinić. Die Empörungsspiralen in den sozialen Medien zeigten aber auch: „Wut zersetzt. Sie zerstört das klare Denken.“

Baden-Württemberg

"Brandmauer verteidigen" Tausende Menschen in BW demonstrieren nach AfD-Unterstützung bei Merz' Asylplan

Nach der Abstimmung von Union und AfD im Bundestag für eine verschärfte Migrationspolitik gibt es bundesweit Proteste. Am Donnerstag gab es erste Demos gegen Rechts in BW.

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Das Interview führte
Julian Burmeister
Interview mit
Jagoda Marinić