„Brain rot“ lautet das Wort des Jahres 2024, das der Verlag Oxford Languages Anfang Dezember bekanntgegeben hat. Wörtlich übersetzt bedeutet das soviel wie „Gehirnverfall“. Der Begriff bezieht sich auf den vermeintlichen geistigen Verfall nach dem übermäßigen Konsum von sinnlosen Online-Inhalten, insbesondere in den sozialen Medien.
Die Wahl hätte kaum passender ausfallen können angesichts der aktuellen Debatte in Australien.
Dort verabschiedete die australische Regierung am 28. November 2024 ein Gesetz, das Kindern und Jugendlichen unter 16 Jahren die Nutzung von Social-Media-Plattformen verbietet. Es ist das erste Gesetz seiner Art weltweit in dieser Strenge.
EU-Initiative fordert mehr Kompetenz im Umgang mit Social Media
Eine Regelung in ihrer Härte sei nicht sonderlich sinnvoll, findet Martin Bregenzer, Medienpädagoge und Referent der EU-Initiative „Klicksafe“.
In Deutschland wird diese Initiative von der Medienanstalt Rheinland-Pfalz umgesetzt. Sie unterstützt seit 2004 Menschen, die Kindern und Jugendlichen dabei helfen möchten, ihre Internetkompetenzen zu verbessern. Die Initiative setzt sich allgemein für mehr Sicherheit im Netz ein, indem sie Informations- und Bildungsangebote für einen verantwortungsvollen Umgang mit digitalen Medien bereitstellt.
„Der richtige Weg ist, dass Kinder befähigt werden, sich sicher in Social Media zu bewegen und entsprechende Kompetenzen zu erwerben“, erklärt Bregenzer. Dies sei nicht möglich, wenn Kinder und Jugendliche keinen Zugang zu diesen Plattformen hätten. Gleichzeitig müssten die Plattformen ihre Angebote verbessern und sicherer gestalten, ergänzt der Medienpädagoge.
Wäre ein Social-Media-Verbot in Deutschland überhaupt denkbar?
„Die EU hat eine Pionierrolle bei der Regulierung von Plattformen eingenommen“, sagt Bregenzer, insbesondere durch den Digital Service Act. Dieser biete eine einheitliche europäische Basis, damit Kinder und Jugendliche sich sicherer auf Plattformen bewegen können. Statt rigoroser Verbote gehe es darum, Kinder und Jugendliche zu schützen, erklärt Bregenzer, und sie im Umgang mit sozialen Medien aktiv zu begleiten.
Unter anderem begründete Australiens Premierminister Anthony Albanese sein Gesetz damit, die Gesundheit der Jugendlichen schützen zu wollen. Er wünsche sich, dass Australiens Jugendliche von ihren Handy-Bildschirmen loskommen, um mehr Sport treiben.
Ansprache des australischen Premierministers Anthony Albanese
24,5 Prozent der Jugendlichen gelten als suchtgefährdet
Tatsächlich belastet unsere Handynutzung unsere Gesundheit: Im September 2024 veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation eine Studie, über problematisches Nutzungsverhalten sozialer Medien. Man habe ähnliche Symptome identifizieren können wie bei Suchtpatienten: Elf Prozent der befragten Jugendlichen aus 44 Ländern zeigten ein problematisches Verhalten hinsichtlich ihres Social-Media-Konsums.
Das Suchtpotenzial von Social-Media sei tatsächlich hoch. „24,5 Prozent der Jugendlichen gelten als Risikogruppe“, erklärt Isabel Brandhorst. Die klinische Psychologin und Psychotherapeutin ist Leiterin der Forschungsgruppe Internet-Nutzungsstörungen am Universitätsklinikum Tübingen. In Deutschland, so Brandhorst, gelten 6,1 Prozent der Jugendlichen als süchtig.
Es gebe konkrete Gefahren durch eine falsche und maßlose Nutzung von Social-Media. So könnten junge Menschen etwa einen Kontrollverlust und eine Priorisierung von Social Media gegenüber anderen Lebensbereichen erleben, warnt die Expertin.
Australische Menschenrechtskommission äußert Bedenken
Doch das australische Gesetz ist nicht unumstritten. So hat die australische Menschenrechtskommission AHRC Bedenken bezüglich des Verbots geäußert.
Obwohl sie dessen potenzielle Chancen anerkennt, unter anderem den Schutz vor Cybermobbing, schädlichen Inhalten und Datenschutzverletzungen, betont die AHRC, dass ein generelles Verbot unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten Probleme aufwerfe. So könne dieses Verbot die Rechte junger Menschen auf Meinungsfreiheit, Zugang zu Informationen, soziale Teilhabe sowie kulturelle und Bildungsaktivitäten einschränken.
Hart aber fair? Bei Verstößen drohen hohe Strafen für die Onlinedienste
Das Gesetz baut bei den Betreibern von Plattformen wie TikTok, Instagram und Facebook Druck auf, um strengere Altersbeschränkungen durchzusetzen. Während Jugendliche beim Verstoß gegen das Gesetz keine direkten Strafen fürchten müssen, drohen den Plattformbetreibern hohe Bußgelder.
Es bleibt unklar, welches System zur Altersverifikation eingesetzt werden soll, mit dem das Alter der User*innen bei der Anmeldung effektiv überprüft werden soll. Das Gesetz soll Ende 2025 in Kraft treten, somit bleibt den Social-Media-Plattformen ein Jahr zur Umsetzung.
Die Sorgen und Kritik der Konzerne seien aus technischer Sicht berechtigt, erklärt Medienexperte Michael Seemann. Obwohl eine Altersverifikation bereits existiere, stoße diese an technische Grenzen, die noch verbessert werden müssten. „Die Plattformen stehen vor einem Dilemma“, so Seemann. „Sie machen sich haftbar für Dinge, die sie nicht kontrollieren können.“
Politische Verwicklungen
Zugleich begrüßt Seemann die Maßnahmen gegen diese Plattform-Konzerne angesichts der Kontrolle, die diese über die digitale Öffentlichkeit haben.
Während Elon Musk seine Plattform X direkt in den Dienst der Trump-Kampagne gestellt habe, beschränke Mark Zuckerberg nachrichtliche und politische Inhalte mithilfe den Algorithmus und entziehe sich so seiner Verantwortung zur Moderation der Inhalte. „Diese Unternehmen haben sich mit der Trump-Regierung eingelassen. Ihnen ist nicht mehr zu trauen“, so Seemann.
Auch positive Erfahrungen auf Social Media
Obwohl Social Media reale Gefahren für Heranwachsende bergen (wie Suchtpotenzial, Cybermobbing und ungefiltertem Zugang zu sexualisierten oder gewalttätigen Inhalten), sollte man die positiven Aspekte der digitalen Welt nicht unterschätzen.
Auch Psychologin Isabel Brandhorst weist bei aller Warnung darauf hin, dass Social Media durchaus positive Auswirkungen haben können. Sie böten „sozialen Beistand, der vielleicht Mut und Hoffnung gibt“, so die Psychotherapeutin.
„Die allermeisten Jugendlichen machen sehr positive Erfahrungen auf Social Media“, bestätigt Bregenzer. Social Media spielen etwa eine zentrale Rolle bei der Vernetzung und der Identitätsentwicklung: „Das findet heute auch auf Social Media statt“, betont er.
Ein Beispiel sei es, dass queere Jugendliche, die in einem eingeschränkten Umfeld leben, über Social Media die Möglichkeit hätten, ihre Identität zu entdecken, sich mit Anderen zu identifizieren und schließlich Anschluss zu finden.