Im Jüdischen Museum Wien läuft die Ausstellung „Superjuden. Jüdische Identitäten im Fußballstadion“. Darin werden auch Klubs wie Ajax Amsterdam, der FC Bayern München oder Tottenham Hotspur vorgestellt, die sich jüdische Attribute angeeignet haben. Seit dem Terrorangriff der Hamas fühlen sich viele jüdische Fans im Fußball isoliert.
Jüdische Solidarität im Stadion der Tottenham Hotspurs
Im Stadion von Tottenham Hotspur versammeln sich einige jüdische Fans für ein Kaddish, ein Totengebet. Sie erinnern an die rund 1.400 Menschen in Israel, die von der Hamas ermordet wurden. Viele Fans von Tottenham bekunden seit Jahren ihre Solidarität mit jüdischen Menschen, zum Beispiel mit Flaggen und Gesängen.
„Also ich bin dann mit dem Bus gefahren zum Tottenham-Stadion, steige aus und werde sozusagen zu einer Masse mit den anderen Tottenham-Fans“, sagt Pavel Brunssen. Der Antisemitismus-Forscher hat für seine Doktorarbeit jüdische Identitäten von vier Fußballclubs erforscht, auch von Tottenham.
Brunssen weiter: „Und in dem Moment, wo die ganzen Individuen aus der U-Bahn und aus dem Bus kommen, hört man links vorne ,Yid Army‘ und rechts auch den Gesang ,Yid Army‘. Diese Rufe sozusagen verkünden, dass sie jetzt zu diesem Tottenham-Fankollektiv werden.“
Aus der Diskriminierung erwächst Tottenhams „Yid Army“
Fans von Tottenham bezeichnen sich als „Yid Army“. Sie verweisen auf jüdische Traditionen, obwohl die meisten von ihnen gar nicht jüdisch sind. Aber was genau macht einen Fußballklub zu einem jüdischen Klub?
Die Ausstellung „Superjuden“ im Jüdischen Museum Wien spürt dieser Frage nach, auch bei Tottenham Hotspur.
Anfang des 20. Jahrhundert wächst im Londoner East End eine jüdische Gemeinde. Viele Mitglieder besuchen das Stadion von Tottenham. Ab den 1940er-Jahren werden auch Tottenham-Fans zunehmend als „Yids“ diskriminiert.
Doch sie machen sich diesen Begriff zu eigen und bezeichnen sich fortan selbst so, erzählt Pavel Brunssen. Er habe bei Tottenham mit jüdischen Fans gesprochen, die ihm erklärten, wie sie in den 1970er-Jahren bei Tottenham eine Solidarität erfahren haben, die sie noch nirgendwo anders in der Gesellschaft wahrgenommen hatten.
Sie berichteten von unvergesslichen Momenten: „Zehntausende machen Gas-Geräusche, singen etwas Antisemitisches und du stehst da mit ein paar Tausend Leuten und singst zurück: ,Hey wir sind die ,Superjuden‘ oder ,Yid Army‘‘ oder was auch immer, und reagierst mit Identifikation, mit Stärke, mit einem positiven ironischen Selbstbild.“
Jüdische Symbolik gegen Antisemitismus
Antisemitische Schmähungen gehören lange zum Alltag in englischen Stadien. Viele Anhänger von Tottenham stellen sich mit jüdischer Symbolik dagegen. Sie tragen Kippa und Anstecker, zeigen den Davidstern. Die Ausstellung in Wien präsentiert etliche dieser Objekte.
„In den Debatten um diese Judenclub-Images werden auch die Fans, die sich selber so jüdisch bezeichnen und das zelebrieren, oft mit als Problem gesehen“, sagt Pavel Brunssen, „zum einen, weil sie in der Regel nicht jüdisch sind, und man das als kulturelle Aneignung kritisiert. Und zweitens, weil sie damit den Antisemitismus der anderen Fans, die zum Beispiel diese Gas-Geräusche machen, angeblich provozieren würden.“
„Gerade ist nicht die Zeit, um offen jüdisch zu sein.“
Der Terrorangriff der Hamas ist eine Zäsur. Antisemitische Straftaten sind auch in England gestiegen. Eine breite Solidarität mit jüdischen Opfern blieb aber aus. Stattdessen wurde in einigen Stadien palästinensische Flaggen geschwenkt.
„Wenn die Reaktion auf den Angriff einer Terrororganisation das Zeigen dieser Flagge ist, dann nehme ich das als Einschüchterung wahr“, erklärt Barry Frankfurt, Fan des FC Arsenal in London. „In diesem Kontext ist das ein Symbol gegen uns.“
Frankfurt ist Mitglied der jüdischen Gruppe „Jewish Gooners“. Er findet: „Die Verbände waren nicht in der Lage, ein würdiges Gedenken zu organisieren. Als ,Jewish Gooners‘ wollten wir dazu beitragen, dass sich jüdische Menschen im Stadion heimisch fühlen. Ich bin mit Kippa zu den Spielen gegangen. Doch dieser Freiraum war von kurzer Dauer. Gerade ist nicht die Zeit, um offen jüdisch zu sein.“
Die Ausstellung „Superjuden“ wurde lange vor dem Massaker der Hamas geplant. Trotzdem bietet sie auch jetzt ein wichtiges und interessantes Forum, um über jüdische Identitäten nachzudenken, im Fußball und weit darüber hinaus.
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Host: Pia Masurczak
Redaktion: Pia Masurczak und Philine Sauvageot
Ronny Blaschke hat dieses Buch zum Thema geschrieben: „Machtspieler - Fußball in Propaganda, Krieg und Revolution", Die Werkstatt, 2020, broschiert 22€.