Luxuriöse Jagdhütte mit kleinen Türmchen und bleigefassten Butzenscheiben
An einem heißen Sommernachmittag läuft Benjamin Seyfang mit schwerem Fotorucksack die steile Straße hinauf. Zwischen properen Eigenheimen wuchert ein dichtes Wäldchen. Seyfang schaut sich um, ob niemand in der Nachbarschaft uns beobachtet, und stapft dann zügig mitten ins Gestrüpp hinein.
Der Pfad führt steil den Hang hinauf, einige Dutzend Meter weiter erkennt man im Zwielicht des dichten Unterholzes ein altes, mit Schindeln verkleidetes Haus. Es erinnert an eine luxuriöse Jagdhütte der vorletzten Jahrhundertwende. Das Gebäude muss einmal eine echte Schönheit gewesen sein, der Eingang ist verziert mit einem kleinen Türmchen und bunten, bleigefassten Butzenscheiben.
Benjamin Seyfang kommt nicht zum ersten Mal hierher. Vor über einem Jahr hat er das verwilderte Areal zufällig bemerkt und erkundet. Jetzt liegt ein Skateboard im Gebüsch neben dem Eingang – offenbar sind wir nicht die einzigen Besucher.
Innen aber fehlt nichts, im Gegenteil: die muffigen Räume sind vollgestopft mit Krims und Krempel, nicht alles davon aus der Zeit, in der das Haus normal bewohnt wurde. In einem Raum zum Beispiel stapeln sich dutzende ramponierte Fahrräder, im Nebenzimmer steht ein Mofa, möglicherweise Diebesgut.
In einer Nische eine Schachtel mit Morphiumampullen
Im Keller rosten ein Stahlhelm und eine kleine Druckerei vor sich hin; Buchregale sind gefüllt mit medizinischer Fachliteratur. In einer Nische stoßen wir auf Schachteln mit Morphiumampullen aus Glas, originalverpackt vor schätzungsweise gut hundert Jahren. Zwischen all diesen Objekten bewegt sich Benjamin Seyfang überaus vorsichtig, berührt nichts, leuchtet allenfalls mal eine allzu dunkle Ecke aus, um Fotos zu machen.
Über 150 Lost Places in 17 Ländern ausgekundschaftet
Benjamin Seyfang frönt seiner Leidenschaft für verlassene Orte schon seit etlichen Jahren. Sie faszinieren ihn mit ihren Relikten, die aus anderen Leben erzählen. Über 150 Lost Places hat Seyfang in 17 Ländern weltweit ausgekundschaftet, nicht alle davon waren so beschaulich wie die kleine Waldvilla bei Stuttgart.
Die Bilder, die Benjamin Seyfang und andere Lost-Places-Fotografen von ihren Streifzügen mitbringen, sind ziemlich erfolgreich. Seyfang hat mittlerweile drei Bildbände veröffentlicht, sie erzielen das Mehrfache an Auflage von dem, was künstlerische Fotografie-Projekte erreichen. Aber bei Lost-Places-Fotografie geht es nicht um eine fotografische Handschrift. Das Genre bringt eher bunte Sträuße visueller Nostalgie-Momente hervor. Wie sie auch das alte verwitterte Haus bei Stuttgart bietet.
Und für den Fotografen selbst ist sowieso der größte Reiz das Abtauchen in eine unbekannte, exotische Parallelwelt - beinahe so, als wäre der Weg zum Bild schon das Ziel.