Christian Falkenstein aus Dernau im Interview

Psychotherapeut zu Folgen der Flutkatastrophe: "Viele sind erschöpft und depressiv"

Stand

Drei Jahre nach der Flut an der Ahr kämpfen viele Betroffene noch mit den psychischen Folgen. Aber die Probleme verändern sich, sagt Psychotherapeut Christian Falkenstein im SWR-Interview.

Die Flutkatastrophe hat Spuren bei den Menschen im Ahrtal hinterlassen. Noch immer sei der Bedarf an psychologischer Unterstützung groß, die Nachfrage nehme sogar weiter zu, sagt Falkenstein. Der Psychologe und Psychotherapeut hat eine Praxis in Dernau mitten im Flutgebiet und betreut überwiegend Betroffene der Flutkatastrophe.

SWR Aktuell: Wie haben sich die Probleme der Menschen, die zu Ihnen kommen, in den letzten Jahren verändert?

Christian Falkenstein: Die Probleme haben sich gewandelt: Vor zwei Jahren hatten wir hauptsächlich posttraumatische Belastungsstörungen, jetzt haben wir Menschen, die schlicht und ergreifend depressiv sind und die Kontrolle über viele Dinge verloren haben, die einfach völlig ermüdet sind. Ein Begriff aus der Psychologie passt hier gut: Neurasthenie, wo einfachste Aufgaben zur völligen Erschöpfung führen. Und das hängt mit den langwierigen Vorhaben und Aufgaben des Wiederaufbaus zusammen. Selbst das gesündeste System, selbst der gesündeste Mensch bricht irgendwann zusammen, wenn die Kräfte aufgebraucht sind. Und die Kräfte sind bei vielen Menschen im Ahrtal jetzt aufgebraucht.

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Die Landesregierung hat der ISB den Auftrag gegeben: Wickelt das ab und zwar unbürokratisch. Dieser Aufgabe kommt die ISB nicht nach. Das führt zu Frustration.

SWR Aktuell: Was genau macht den Betroffenen zu schaffen?

Falkenstein: Menschen können das, was passiert, nicht mehr kontrollieren, und zwar egal, was sie tun. Ein oft genanntes Beispiel ist der Umgang mit Versicherungen oder der ISB (Investitions- und Strukturbank RLP). Egal, was sie tun, sie kommen nicht voran. Die Situation wird verschärft, weil man sich bei den Stellen, die für die Finanzierung des Wiederaufbaus zuständig sind, nicht einmal Luft machen kann, ohne negative Konsequenzen zu befürchten. Das führt oft zu Depressionen und kann sogar körperliche Erkrankungen nach sich ziehen.

SWR Aktuell: Also sorgt auch die Bürokratie für psychische Probleme?

Falkenstein: Das Problem ist, dass die ISB mit ihrer Aufgabe überfordert scheint. Die Menschen haben keine persönlichen Ansprechpartner und erleben oft eine schlechte und langsame Bearbeitung ihrer Anfragen. Wenn wir über die ISB reden, dann hat die Landesregierung der ISB den Auftrag gegeben: Wickelt das ab und zwar unbürokratisch. Dieser Aufgabe kommt die ISB nicht nach. Das führt zu Frustration.

Die meisten Patienten, die jetzt kommen, sind erschöpft und depressiv.

SWR Aktuell: Wie können Sie jetzt - drei Jahre nach der Katastrophe - den Betroffenen überhaupt noch helfen?

Falkenstein: Die meisten Patienten, die jetzt kommen, sind erschöpft und depressiv. Das erfordert eine andere Behandlung als bei Traumata. Es geht viel um Zuhören und Gemeinschaft schaffen, zum Beispiel in Gruppentherapien. Hier können Betroffene sehen, dass sie nicht alleine sind. Und das hilft, ihre Situation zu normalisieren. Es geht darum, zu stabilisieren, zu erklären, wie eine Depression entsteht, oft auch Hoffnung zu geben, wo manchmal keine ist, und den Umgang mit dem Unkontrollierbaren zu erlernen. Wichtig ist auch, zu erkennen, dass man im Hier und Jetzt Pausen machen darf, selbst, wenn noch viele Aufgaben anstehen. Jetzt und hier darf ich es mir gönnen, mal einen Moment Pause zu machen. Es ist in Ordnung, wie ich bin.

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SWR Aktuell: Kürzlich hat eine repräsentative SWR-Umfrage ergeben, dass viele Betroffenen im Ahrtal das Gefühl haben, dass die Gemeinschaft seit der Flutkatastrophe deutlich gewachsen ist. Wie lässt sich das psychologisch erklären?

Falkenstein: Gemeinschaft ist in den betroffenen Orten und Dörfern gewachsen, oft weil staatliche Systeme versagt haben. Und das ist gar kein Vorwurf, es gibt einfach begrenzte Möglichkeiten einzugreifen. Ich kann nicht von Vater Staat erwarten, dass er mein Haus aufbaut. Das muss ich selber machen. Wo Behörden und der Staat an ihre Grenzen stoßen, entsteht Zusammenhalt, weil die Menschen auf Partnerschaft und Unterstützung angewiesen sind. Leider gibt es aber auch im Ahrtal Verteilungskämpfe, wo Ressourcen knapp sind, etwa bei der Frage, wer wie viel Unterstützung erhalten hat. Es gibt auch Spannungen zwischen Menschen, etwa darüber, warum jemand schneller wieder aufgebaut hat oder mehr Unterstützung erhalten hat. Solche Spannungen sind normal und treten überall auf, wo es um knappe Ressourcen geht.

Viele Menschen kommen zunächst alleine zurecht, stellen aber oft zu spät fest, dass sie doch Hilfe brauchen.

SWR Aktuell: Die Umfrage hat auch ergeben, dass nur etwa zehn Prozent der schwer von der Flut betroffenen Menschen psychotherapeutische Hilfe in Anspruch genommen haben. Viele sagen, dass sie das nicht brauchen. Können Sie das nachvollziehen?

Falkenstein: Ja! Die Zahl von zehn Prozent ist belastbar, da sie auch in anderen traumatischen Kontexten etwa der Häufigkeit entspricht, mit der Menschen eine posttraumatische Belastungsstörung entwickeln. Viele Menschen kommen auch ohne psychotherapeutische Hilfe zurecht. Das hängt mit der Resilienz der Einzelpersonen zusammen, mit der Erfahrung, aber auch damit, wie sie aufgefangen werden. Die Nachfrage nach Therapie wird jedoch größer, je weiter die Ereignisse zurückliegen. Wir sehen jetzt immer mehr Spätfolgen.

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Viele Patienten berichten, dass sie seit der Flut viel zu viel trinken.

SWR Aktuell: Brauchen diese Menschen keine Hilfe oder trauen Sie sich nicht, welche in Anspruch zu nehmen?

Falkenstein: Sowohl als auch. Die Hemmschwelle, einen Psychotherapeuten aufzusuchen, ist immer noch groß. Aber viele Menschen kommen auch zunächst alleine zurecht, stellen aber oft zu spät fest, dass sie doch Hilfe brauchen. Die Nachfrage nach Therapie bleibt hoch, sie nimmt sogar zu. Die Spätfolgen treten jetzt auf und in den kommenden Jahren werden auch immer mehr junge Menschen, die das Trauma als Kinder erlebt haben, Hilfe suchen. Das Thema wird uns noch lange beschäftigen. Viele versuchen zunächst, sich selbst zu helfen. Und leider gehört dazu auch, dass der Alkoholkonsum gestiegen ist. An der Ahr wurde schon immer getrunken, aber jetzt ist es deutlich mehr. Viele Patienten berichten, dass sie seit der Flut viel zu viel trinken. Solange das nicht chronisch wird, kann man das gut in den Griff bekommen. Aber ohne professionelle Hilfe droht eine Abhängigkeit, und das will niemand.

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SWR Aktuell: Fehlt den Betroffenen jemand, der Verantwortung dafür übernimmt?

Falkenstein: Es ist verständlich, dass Menschen einen Verantwortlichen suchen. Aber die Flut war ein Naturereignis, für das wir alle durch unseren Umgang mit der Natur mitverantwortlich sind. Es ist schwer, für eine so große Katastrophe einen einzelnen Verantwortlichen zu finden. Oft ist es eine Verantwortung, die sich über Jahre und Jahrzehnte erstreckt. Hochwasserschutz hätte zum Beispiel schon im frühen 20. Jahrhundert betrieben werden können. Aber es wurden andere Prioritäten gesetzt. Man sucht einen Schuldigen, aber die Verantwortung für das, was hier passiert ist, die tragen wir alle und die tragen wir weiterhin alle.

Das Interview führte SWR-Reporter Johannes Baumert.

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