Rekonstruktion einer Katastrophe

Was ist in der Flutnacht passiert? - Ein Protokoll

Stand
Autor/in
Anna-Lara Weidinger
SWR Aktuell, Logo
Redakteur/in
Nicolas Kessler

Nach der Jahrhundertflut im Ahrtal dauert der Wiederaufbau noch immer an. Der Untersuchungsausschuss vernahm viele Zeugen und sammelte Material: Wie konnte es zu einer solchen Katastrophe kommen?

Wann gingen die ersten Warnungen ein? Gab es nicht genug Hinweise auf das nahende Unglück? Wie kann man verhindern, dass sich ein solches Ereignis wiederholt? Der Wiederaufbau in der betroffenen Region dauert noch immer an.

Innerhalb von 24 Stunden fielen in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 mehr als 100 Liter Regen pro Quadratmeter in Teilen der Bundesländer Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen - mit verheerenden Folgen für die Menschen vor Ort. Viele waren nicht gewarnt worden, verloren ihr Hab und Gut, bezahlten mit dem eigenen Leben.

Ermittlungen gegen den ehemaligen Landrat eingestellt

Insbesondere der in den Ruhestand versetzte Landrat des Kreises Ahrweiler, Jürgen Pföhler (CDU), wurde und wird deswegen kritisiert: In seinem Landkreis wurde als letztes der Katastrophenfall ausgerufen, der Kreis dabei am schwersten getroffen. Gegen Pföhler und ein weiteres Mitglied seines Krisenstabs liefen Ermittlungen wegen fahrlässiger Körperverletzung und fahrlässiger Tötung.

Inzwischen wurden die Ermittlungen gegen Pföhler aber eingestellt. Die Staatsanwaltschaft Koblenz erhebt keine Anklage gegen den ehemaligen Landrat des Kreises Ahrweiler und den Ex-Leiter des Krisenstabs, Michael Zimmermann.

Noch immer sind viele Fragen offen, was den Verlauf des Abends und der Nacht betrifft. Es gibt Daten und Fakten dazu, wann Warnungen von welcher Stelle ausgesprochen wurden und was vor Ort passierte - eine Spurensuche.

Die Messdaten des Pegels in Altenahr sowie die prognostizierten Höchststände und ihre entsprechenden Uhrzeiten wurden dem SWR vom Landesamt für Umwelt (LfU) auf Nachfrage zur Verfügung gestellt.

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Vor der Flut - Frühzeitige Warnungen laufen ins Leere

Schon am Samstag hatten Behörden vor dem drohenden Unwetter am Mittwoch gewarnt, zuletzt wurden diese Warnungen immer konkreter.

Messungen im Ahrtal selbst werden am Mittag auffällig

An der Ahr selbst beginnt es am Mittwoch schon morgens vereinzelt zu regnen, am Vormittag großflächig. Der Regen hört nicht auf.

Der Pegel steigt, der Krisenstab kommt zusammen

Die Kreisverwaltung in Ahrweiler wird am Nachmittag aktiv und agiert dabei in Etappen. Währenddessen steigt der Ahrpegel weiterhin über Stunden an. Benachbarte Landkreise ziehen früher Schlüsse aus dieser Entwicklung.

Die Flut in vollem Gange

Am späten Abend wird klar, wie außergewöhnlich die Wucht des Hochwassers ist - spätestens, als das Messgerät der Ahr zum Opfer fällt.

Die Nacht

Anwohner verbringen Nacht auf Dächern

Die Fluten schneiden in der Nacht zahlreiche Orte von der Außenwelt ab. Mindestens 50 Menschen werden von Hausdächern gerettet, auf denen sie Zuflucht vor den Wassermassen suchen. Die Rettungseinsätze seien sehr schwierig und teils sogar unmöglich gewesen, wird Landrat Pföhler am Tag danach sagen: "Viele haben die ganze Nacht im Regen auf einem Dach oder dem Dach ihres Campingbusses ausgeharrt, ohne zu wissen, wann Hilfe kommt."

Dokumentation auf Social Media

Auf Instagram dokumentiert die Mediengestalterin Rebecca Arnoldy-Heimansfeld, wie sie den späten Abend und die Nacht in Dernau im Landkreis Ahrweiler erlebt:

Im Bereich der Bäche und Flüsse besteht Lebensgefahr. Laut Polizei ist das Ahrtal über keine der Zufahrtsstraßen mehr erreichbar. Seit der Nacht suchen hunderte Einsatzkräfte nach Vermissten. Dabei sind allein 100 Bundeswehrsoldaten zu Lande und zu Luft unter den Rettungskräften. Auch Höhenretter der Feuerwehr Wiesbaden kommen zu Hilfe, ebenso wie Experten aus Baden-Württemberg. Aus dem Kreis Altenkirchen unterstützen mehr als 200 Feuerwehrleute und Katastrophenhelfer die Einsatzkräfte im Kreis Ahrweiler und auch im betroffenen Nachbarbundesland Nordrhein-Westfalen.

Der Morgen danach

Erst am Donnerstagmorgen wird das volle Ausmaß der Katastrophe allmählich offenbar - denn erst nach und nach wird bekannt, wie viele Menschen tatsächlich noch in den Fluten verschollen sind. Auch die Verantwortlichen in Mainz werden sich der Tragweite der Situation bewusst.

Bis Ende August (Stand: 30.08.21) wird sich die Zahl der Todesopfer auf 133 erhöhen. Die Polizei bearbeitet zu diesem Zeitpunkt noch drei offene Vermisstenfälle. Zwei Jahre nach der Flut wird immer noch ein Mensch vermisst, die Zahl der Todesopfer liegt jetzt bei 135 (Stand: 23.06.23).

Das Nachspiel

Nach der Flut stehen zwei Fragen im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses: Wie kommt es zu so gewaltigen Hochwassern vergleichsweise kleiner Gewässer? Und wie viel Verantwortung trägt der Krisenstab des Landkreises Ahrweiler?

In den Mittelpunkt rückte im Frühjahr 2022 zunächst die ehemalige rheinland-pfälzische Umweltministerin Anne Spiegel (Grüne), die in der Zwischenzeit zur Bundesfamilienministerin im Kabinett Scholz ernannt worden war. Aufgrund des politischen Drucks sah sich Spiegel schließlich im April zum Rücktritt von diesem Amt gezwungen.

Im September 2022, schon über ein Jahr nach der Flut, gerät dann auch das Innenministerium in den Fokus der Ermittlungen, als Videos eines aus der Flutnacht auftauchen: Das Lagezentrum im Innenministerium hatte am Abend der Flut einen Polizeihubschrauber losgeschickt, der nach 22 Uhr Videos und Fotos gemacht. Am 23. September erklärt Innenminister Roger Lewentz, die Videos nicht gekannt zu haben, bevor sie ihm dort gezeigt wurden. Nach SWR-Informationen standen sie aber schon vor knapp einem Jahr auf einer Liste von möglichen Beweismitteln für den Untersuchungsausschuss. Das heißt, sie sollten dem Innenministerium schon länger bekannt gewesen sein.

Dem Ausschuss wurden die Videos damals nicht zur Verfügung gestellt, weil sie als "nicht wesentlich" für die Aufklärungsarbeit kategorisiert wurden. Ob das mit oder ohne das Wissen des Ministers erfolgte, ist unklar. Beides wirft ein schlechtes Licht auf den SPD-Politiker, der am 12. Oktober schließlich zurücktritt.

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Lücken im Warnsystem und Unklarheiten im Katastrophenschutzgesetz in RLP - der Untersuchungsausschuss des Landtags zur Flutkatastrophe hat schon einiges zu Tage gefördert. Die Arbeit des Gremiums führte außerdem zum Rücktritt einer Ministerin. Eine erste Bilanz:

Im Nachgang wird außerdem von den Landkreisen Kritik am Meldeverfahren geübt. Es soll nun verbessert werden, um zukünftig bei heftigen Naturkatastrophen effizienter handeln zu können.

Bilanz einer Katastrophe

Entlang der Ahr leben laut EU-Auswertung etwa 56.000 Menschen. Dabei geht die Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion (ADD) von 42.000 Betroffenen aus. Mindestens 17.000 von ihnen haben Hab und Gut verloren oder stehen vor erheblichen Schäden.

Die Flut reißt mindestens 467 Gebäude mit sich, darunter mindestens 192 Wohnhäuser. Von den 4.200 Gebäuden entlang der Ahr sind geschätzt mehr als 3.000, also mehr als 70 Prozent aller Gebäude, beschädigt worden.

Der verursachte Schaden beläuft sich in Rheinland-Pfalz nach einer ersten Schätzung auf mehr als 18 Milliarden Euro einschließlich der durch Dritte (insbesondere Versicherungen) abgedeckten Schäden.

Schon Außenstehenden fehlen angesichts der Flutkatastrophe im Ahrtal die Worte. Die Betroffenen haben einen Anspruch darauf, zu erfahren, was genau passiert ist - und ob und wo es in der langen Verkettung von Ereignissen zu Versäumnissen kam.

Viele Menschen im Ahrtal können die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Koblenz nicht nachvollziehen, keine Anklage gegen den ehemaligen Landrat Pföhler zu erheben.

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