Tübingens Oberbürgermeister will wieder mehr Sonderschulen

Kritik an Äußerungen von Boris Palmer zu Geldsparen bei Inklusion

Stand
Autor/in
Ingemar Koerner
Ingemar Koerner ist Reporter für Hörfunk, Online und Fernsehen beim SWR im Studio Tübingen.

Tübingens Oberbürgermeister findet die derzeitigen Inklusionsbemühungen an Schulen zu teuer. Er will wieder mehr Sonderschulen, um Geld zu sparen. Dafür erntet er Kritik.

Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (parteilos) muss angesichts klammer Kassen Geld sparen. Dabei hat er unter anderem die Inklusion an Schulen im Auge. "Die Inklusion funktioniert inhaltlich sowieso nicht gut," sagte er im Morgenmagazin von ARD und ZDF. "Vielleicht sind die Sonderschulen doch die bessere Lösung", so der Oberbürgermeister. Der Tübinger Landrat Joachim Walter (CDU) und die Präsidentin des Sozialverbands VdK Verena Bentele kritisieren Palmers Forderungen für mehr Sonderschulen und weniger Inklusion.

Palmer: Mehr Sonderschulen statt Inklusion

Palmer erklärte weiter, dass Sonderschulen sehr viel günstiger seien "als dieses neue System". Er fordert also: Schülerinnen und Schüler mit besonderem Förderbedarf sollten weniger in Regelschulen unterrichtet werden. Stattdessen sollten sie wieder in Sonderschulen gehen.

Zudem verschlechterten sich die Schulleistungen, weil die Schulen mit Inklusion und Integration sehr vieler Kinder zur gleichen Zeit überfordert seien, teilte Palmer auf SWR-Anfrage mit. Deswegen sei es auch wichtig, Flüchtlingskinder so lange separat zu beschulen, bis sie "mitschwimmen" könnten.

Inklusion nur in ausgewählten Schulen

Zudem plädiert er dafür, Inklusion nicht mehr als einklagbaren Rechtsanspruch ohne jede Rücksicht auf Kosten und Qualität durchzusetzen, sondern mehr auf die Ergebnisse zu achten. Dafür wäre es laut Palmer richtig, Inklusionsklassen nur in ausgewählten Schulen anzubieten, diese richtig gut auszustatten und außerdem wieder mehr Kinder in Sonderschulen zu nehmen. Damit würden sich für fast alle in Tübingen die Lernbedingungen ändern.

Palmer verweist auf Einschätzungen von Pädagogen, Eltern, Schülern und Schülerinnen mit und ohne Behinderung. In der Praxis würden die meisten diese Auffassung teilen, aber sie werde tabuisiert, weil das "angeblich die Menschenrechte von Behinderten einschränken soll", so Palmer.

Hintergrund ist, dass viele Kommunen bundesweit in finanzielle Schwierigkeiten geraten sind. Palmer als Tübingens Oberbürgermeister sucht deswegen nach Einsparmöglichkeiten. Er bemängelt, dass Bund und Länder immer höhere Anforderungen an die Kommunen stellen würden. Bezahlen müssten die Leistungen dann die Kommunen selbst. Das hält Palmer für falsch. Hier müssten Bund und Länder mehr unterstützen.

Kritik an Palmers Aussagen zu Inklusion

Der Tübinger Landrat und Präsident des Landkreistages, Joachim Walter (CDU), schreibt auf SWR-Nachfrage: "Inklusion ist ein Menschenrecht. Deutschland hat sich mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet, für ein inklusives Schulsystem einzutreten." Ein Zurück zur Sonderschule könne es allein deshalb nicht geben. Daher brauche man auch nicht über mögliche Einsparpotentiale zu spekulieren, so Walter.

In Baden-Württemberg haben die Eltern die Wahl, ob ihr Kind ein inklusives Bildungsansgebot in Anspruch nimmt oder ein Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum besucht. Dies ist aus Sicht der Landkreise der richtige Weg.

Landrat Walter sieht es als Verbesserung an, dass Eltern mehr Wahlmöglichkeiten haben, welche Schulart sie für ihr Kind wünschen. Walter kritisiert aber auch wie Palmer, dass das Land die schulische Inklusion nicht ausreichend finanziere. Angesichts eines um sich greifenden Fach- und Arbeitskräftemangels werde man nicht umhinkommen, darüber nachzudenken, wie unter sich ändernden Rahmenbedingungen Inklusion auch in Zukunft nachhaltig gewährleistet werden könne.

VdK: Forderungen des Tübinger OB sind "populistischer Unsinn"

Die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele, hält Palmers Äußerung für "populistischen Unsinn". Auch das nicht-inklusive Förderschulwesen koste Geld, so Bentele auf SWR-Nachfrage. Bei den meisten Kindern mit Behinderung würde die Inklusion keinen Cent kosten, wenn man bereit wäre, Förderschulen zu schließen und in ein inklusives Schulsystem zu investieren.

Durch jede Förderschule, die nicht mehr gebraucht wird, werden jährlich mindestens 200.000 Euro für die inklusive Bildung frei.

Das Festhalten an Sonderschulen koste den Staat auch deshalb Geld, so Bentele weiter, weil ein Großteil der Förderschulabgängerinnen und -abgänger keinen Schulabschluss habe. Dadurch seien sie oft auf Sozialhilfe angewiesen oder in Werkstätten beschäftigt. In einer inklusiven Schule hätten Förderschüler hingegen bessere Chancen auf einen Schulabschluss - und damit auch auf einen Ausbildungs- und Arbeitsplatz.

Bentele sieht - anders als Boris Palmer - dringenden politischen Handlungsbedarf darin, Regelschulen für ihre Inklusionsarbeit zu stärken. Dafür sei mehr geschultes Personal nötig. Ihren Angaben nach besuchen derzeit drei von fünf Kindern mit Behinderung eine Förderschule anstelle einer Regelschule.

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Kommentare (5)

Bisherige Kommentare
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  1. Kommentar von
    Axel Schäfer
    Verfasst am

    Ich kann Herr Palmer zum Thema Sparen verstehen, aber wie immer, im falschen Bereich! Ich selber war in einer Sonderschule und war viele Jahre dadurch abgestempelt trotz Hauptschulabschluss! Sonderschüler haben noch weniger Chancen auf dem 1. Arbeitsmarkt und auf einer Ausbildung. Wer sich mal die Statistik von der Arbeitsagentur ansieht, wird sehr rasch erkennen, wer schwer zu vermitteln ist. Bei den Langzeitarbeitslosen sind die behinderten Menschen der größte Anteil. Viele von ihnen sind in irgendeiner Behindertenwerkstatt und nicht alle von ihnen sind darin glücklich. Die politischen Appelle treffen immer Menschen, die sich nicht wehren können wie Sozialschwache oder behinderte Menschen. Es gibt Menschen, die nicht in eine Sonderschule gehören, aber darin landen und festsitzen. Sonderschulen sind die unterste Ebene in unserer Leistungsbereitschaft und ein schlechter Ausgangspunkt!

  2. Kommentar von
    Tämmy
    Verfasst am

    Hat Herr Palmer eigentlich Belege für seine Argumente? Es gibt zahlreiche Studien, dass alle Kinder einer Schulklasse von Inklusion profitieren - egal ob „Regel-Kinder“ oder „Inklusions-Kinder“. Die UN-BRK ist vor 25 Jahren in Deutschland in Kraft getreten - es ist Zeit, dass den hohlen Versprechungen endlich Taten folgen. Vom Gesetze beschließen oder Ziele vereinbaren alleine passiert noch nichts - man muss sie auch in die Tat umsetzen!

  3. Kommentar von
    Julia Kreth
    Verfasst am

    Inklusion so wie sie momentan an den Grund- und Werkrealschulen bzw. Gemeinschaftsschulen stattfindet, verdient den Namen nicht. Die Kinder, die einen Anspruch auf Inklusion haben, erhalten pro Woche 1 Schulstunde (!) Hilfe durch eine sonderpädagogische Kraft. Dass hier nicht viel erreicht wird, steht außer Frage. Die Regellehrkräfte müssen die gesamte Arbeit der Inklusion übernehmen (differenzierte Hausaufgaben, Arbeiten, Arbeitsmaterialien, etc.). Dies ist bei der Anzahl der Einzelbedürfnisse bei bis zu 28 Kindern pro Klasse und mit Inklusionsanspruch (Bereich Lernen, EsEnt, Sprache, ...) nicht mit dem Anspruch eines vom Kultusministerium geforderten qualitativ guten Unterrichts vereinbar. Inklusion ist in unserem Modell ein anderer Ausdruck von einem verlogenem Einsparen unter dem Deckmantel der "Gleichberechtigung - jeder darf eine Regelschule besuchen".

  4. Kommentar von
    Markus Reiter, Neuenstadt
    Verfasst am

    Herr Palmer hat durchaus recht. Sonderschulen leisten hervorragende Arbeit und sind zugeschnitten auf ihre Schützlinge. Auch eine Hauptschule ist nicht ideal für einen Gymnasisaten und umgekehrt. "Für jeden das Richtige und nicht das Gleiche" sollte maßgebend sein und keine (wenn auch gutgemeinte) Ideologie. Wichtig ist es, dass jeder Mensch wertgeschätzt wird. Und (unabhängig vom obigen Thema!): Es ist traurig, aber wahr: Der Staat (Bund, Land, Kreise, Kommunen) muss sparen, und das muss wohl oder übel im Sozialbereich geschehen. Die Zeiten werden rauher und wir werden uns Ideologien und Randthemen nicht mehr leisten können.

  5. Kommentar von
    Clemens Albiez
    Verfasst am

    Als Herr Höcke in einem Interview dieselben Gedanken äußerte, war er sofort ein Nazi mit der Assoziation zur Euthanasie. Es gibt sicher Kinder und Jugendliche, für die die Inklusion gute Bedingungen schafft ,aber es gibt auch welche, die in einer Förderschule besser gefördert werden können. Das Wort "Sonderschule" im Artikel soll offenbar schon negative Assoziationen wecken! Eine adäquate Förderung in einer Regelschule kann weder finanziell noch personell geleistet werden!

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