BW-Lehrer und Blogger Bob Blume im Interview

Wie weiter nach schwachen PISA-Ergebnissen? "Wir sehen tagtäglich, was schief läuft"

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Autor/in
Marc-Julien Heinsch
SWR-Redakteur Marc-Julien Heinsch Autor Bild

Er ist Lehrer an einem Gymnasium in BW und spricht die Probleme an Schulen auf seinen Social-Media-Kanälen offen an: Bob Blume über schwache PISA-Ergebnisse, die Suche nach Schuldigen - und wichtige Freiräume im System Schule.

SWR Aktuell: Die aktuellen Ergebnisse der PISA-Studie sind für das deutsche Bildungssystem keine gute Nachricht. Wirklich überraschend sind sie aber nicht, wenn man an die zuletzt beunruhigenden Studien zu Lese-, Rechen- und Textverständnis von Grundschülerinnen und Gründschülern denkt. Trotzdem die Frage: Wie ordnen Sie die aktuellen PISA-Ergebnisse ein?

Bob Blume: Auf der einen Seite ist da keine Überraschung, auf der anderen Seite Wut. Nicht zwangsläufig über die Ergebnisse, sondern darüber, dass der Aufschrei ausbleibt. Es gibt keinen PISA-Schock 2.0. Und das ist schon erstaunlich, wenn man bedenkt, dass diese Ergebnisse eine Gefahr darstellen für uns als Gesellschaft. Denn lesen, schreiben und auch rechnen zu können, das sind Grundfertigkeiten, die es überhaupt erst ermöglichen, an dieser Gesellschaft teilzunehmen. Es müsste eigentlich eine viel größere Schockwelle durch diese Republik gehen. 

Der Lehrer, Bildungsaktivist und Blogger Bob Blume.
ChatGPT, Digitalisierung, Inklusion, Integration: Ständig kommen neue Themen und Herausforderungen auf Schulen zu. Lehrer und Bildungsaktivist Bob Blume bloggt darüber.

Und wenn Sie sich an Ihrer Schule umhören: Wie geht es Ihren Lehrerkolleginnen und -kollegen, wenn immer wieder Studien veröffentlicht werden, die zeigen, dass etwas schief läuft mit der Bildung?

Blume: Ich bin ganz ehrlich: Irgendwelche Ergebnisse von Studien machen den Kohl auch nicht fett. Die Lehrerinnen und Lehrer arbeiten ja tagtäglich mit den unterschiedlichsten Schülerinnen und Schülern, versuchen sie zu inspirieren, versuchen sie zum Lernen zu motivieren. Und sie sehen natürlich auch, dass es zum Beispiel durch Corona Lernlücken gibt, die es aufzuholen gilt. Das soll auf der anderen Seite aber nicht heißen, dass man sich rausreden kann, denn international war Corona ja überall ein großer Faktor und Deutschland hat trotzdem schlechter abgeschnitten als so manch anderes Land. Die Lehrerinnen und Lehrer wissen am besten, wie es gerade steht. Wir sehen tagtäglich, was schief läuft und was verbessert werden müsste. 

In einer Pressekonferenz auf die PISA-Studie angesprochen sagte Winfried Kretschmann, man könne nicht alles auf die Politik abladen. Man könne nicht beeinflussen, ob Eltern zu Hause vorlesen, obwohl man wisse, wie wichtig das ist. Macht es sich Herr Kretschmann damit nicht ein bisschen zu einfach?

Blume: Es ist schon verständlich, dass man sagt, wir können nicht alles auf die Politik oder die Schule abladen. Aber letzten Endes wissen wir - auch PISA hat das wieder gezeigt, dass die soziale Ungerechtigkeit eine der größten Baustellen des deutschen Bildungssystems ist. Eltern können vor allen Dingen dann vorlesen, wenn sie in einer traditionellen Familienstruktur leben und nicht beide den ganzen Tag arbeiten müssen, um über die Runden zu kommen. Wenn der Bildungsabschluss stimmt, wenn die Bücher zu Hause sind. Ein Viertel der Kinder und Jugendlichen kann, wenn sie auf die weiterführenden Schulen gehen, nicht richtig lesen. Das kann nicht so bleiben und da hilft es auch nicht, wenn von politischer Seite der Hinweis kommt, dass Eltern mehr lesen üben sollen mit den Kindern. Jetzt in frühkindliche Bildung zu investieren, ist sicher ein guter Weg. Aber auch hier muss man sich vom Gießkannenprinzip verabschieden. Das Startchancenprogramm im nächsten Jahr macht das ja zumindest teilweise. Aber auch hier wäre deutlich mehr Geld nötig.

In Ihrem Buch von 2022 haben Sie zehn Dinge aufgezählt, die Sie an der Schule, wie sie gerade ist, hassen. Aus heutiger Sicht: Was sind die zentralen Probleme, die ihnen als Lehrer im Alltag begegnen?

Blume: Als ich das Buch geschrieben habe, war zum Beispiel Künstliche Intelligenz für Schulen noch kein großes Thema. Daran lässt sich ganz schön zeigen, was das Problem ist: Wir haben es mit einer Situation zu tun, in der an Schulen ständig neue Aufgaben hinzukommen. Digitalisierung und Künstliche Intelligenz zum Beispiel können helfen. Aber Tablets für die Arbeit mit ihnen fallen weder vom Himmel noch werden sie von alleine administriert. Auch die Migrationsgesellschaft und die unterschiedlichen Sprachniveaus sind da ein ganz wichtiger Punkt. Wenn man zusätzlich zu alldem aber den Anspruch an Schule hat, dass dieselben Inhalte in derselben Zeit mit denselben Prüfungen weiter durchgeführt werden müssen, kann das nicht funktionieren. Wir können nicht ständig noch mehr drauflegen und nichts wegnehmen.

Deshalb ist die Diskussion auch manchmal so schräg: Es geht nicht darum, ob die Eltern zu Hause mehr lesen. Ja, natürlich sollten sie das, ja natürlich sollten sie erziehen, ja natürlich sollten sie darauf achten, dass die Kinder und Jugendlichen die sozialen Medien nicht über die Maßen nutzen. Aber: Wir sollten uns auch Gedanken darüber machen, wie Schule im 21. Jahrhundert aussehen kann. Und das heißt für mich auf jeden Fall auch tradierte Inhalte in Frage zu stellen. Lesen, schreiben, rechnen sind Grundfertigkeiten, die jedes Kind beherrschen sollte, klar. Aber es gibt andere Inhalte, bei denen man den Rotstift ansetzen müsste.

Zum Beispiel?

Blume: Ich weiß, ich mache mir keine Freunde damit, aber ich sage es trotzdem: Der Bereich Grammatik ist einer, wo man aus meiner Sicht kürzen müsste. Nicht weil ich nicht der Auffassung bin, dass es durchaus interessant sein kann, zu wissen, was eine adverbiale Bestimmung des Ortes ist oder so, sondern weil die Zeit, die wir haben, eben endlich ist. Und mir ist es persönlich wichtiger, dass Schülerinnen und Schüler in der Lage sind, zu schreiben oder Lust haben, zu schreiben. Was genau an welcher Stelle gekürzt werden müsste, ist natürlich eine fachdidaktische Frage. Ich würde mich nicht nach vorne stellen und behaupten, dass ich beurteilen kann, was im Fach Mathematik raus müsste. Aber ich glaube, dass eine Neufokussierung und Umorientierung absolut nötig sind. Ansonsten haben wir die Situation, die wir jetzt schon haben: Immer weniger Lehrerinnen und Lehrer, die immer mehr machen müssen. Und das ist hochgradig gefährlich.  

Schaut man auf verschiedene Bildungstudien der letzten Jahre, dann sieht man, dass Baden-Württemberg noch vor zehn Jahren deutlich besser dastand, ein Stadtstaat wie Hamburg hat in dieser Zeit stark aufgeholt - Baden-Württemberg ist dagegen abgestürzt. Was ist schief gelaufen?

Blume: Schwierige Frage. Ich glaube, dass in Baden-Württemberg zu sehr gespart wurde. Ministerpräsident Kretschmann (Grüne) hat zuletzt beispielsweise zum Volksantrag für die Rückkehr zu G9 gesagt, das könne nicht einfach in die Tat umgesetzt werden. Es wäre zu teuer und die Reform würde über die Legislaturperiode hinausgehen. Beides zeigt schon, woran es hakt. Der Bildungsföderalismus bedeutet im Grunde, dass jeder für sich kämpft. Wir bräuchten aber gerade Kooperation, massive Finanzmittel und eine Bildungsvision, die über eine Legislaturperiode hinaus wirksam ist. 

Lassen Sie uns nach Beschreibung der Probleme nun auf das schauen, was in BW bereits getan wird - und was noch passieren muss. Müssten angesichts des Lehrermangels Quereinstiege an Schulen erleichtert werden? Denn so schnell, wie man Lehrkräfte bräuchte, wird man sie bekanntlich nicht ausbilden können.

Blume: Es ist traurig, aber der Zug ist schon abgefahren. Natürlich brauchen wir mehr Lehrkräfte, aber wir haben es mit einer Situation zu tun, in der 80.000 Lehrkräfte bundesweit bis 2030 fehlen. Gleichzeitig geht die Zahl der Lehramtstudentinnen und -studenten zurück. Insofern erscheinen mir Quereinstiege sinnvoll, wenn man das gut durchdenkt und keine prekären Beschäftigungen schafft. Wenn beispielsweise studentische Hilfskräfte an Schulen kommen würden, um Praxiserfahrungen zu sammeln, könnte das ja eine Win-Win-Situation sein.

Bildungsforscherinnen und -forscher nennen eine zunehmend heterogene Schülerschaft als eine der großen Herausforderungen für Schulen in Baden-Württemberg. Dazu zählt, dass in keinem anderen Bundesland der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund in vierten Klassen in den letzten zehn Jahren so stark gestiegen ist. Teilen Sie den Eindruck, dass eine diversere Schülerschaft die Arbeit als Lehrkraft schwieriger gemacht hat?

Blume: Ich weiß nicht, wie das meine Arbeit als Pädagoge erschweren sollte. Eine Sache dürfen wir nicht: So tun als wäre eine absolute Homogenität ein anzustrebendes Ziel. Eine Oppositionspartei versucht es ja schon so darzustellen, als müsse Deutschland mehr abschieben, damit die Schulen nicht überfordert sind. Das halte ich für hochgradig gefährlich. Deutschland ist ein Einwanderungsland, das ist ein Fakt. Punkt. Die verschiedenen Menschen sollen hier Leistung erbringen und dementsprechend gefördert werden. Es hilft doch nichts, sie nach Migrationshintergrund erster, zweiter oder dritter Generation zu sortieren.

Also teilen Sie diese Einschätzung nicht?

In Estland - dem europäischen PISA-Gewinner - ist es so, dass die Schülerinnen und Schüler bis zur neunten Klasse zusammen lernen. Das zeigt doch, dass dieses Zusammenlernen funktioniert. Wir sollten fragen: Wie schaffen wir es, dass im besten Fall alle Kinder und Jugendlichen gleichermaßen mitgenommen werden? Ich glaube, darauf müssen wir alle Kraft verwenden, statt nach Schuldigen für die Misere zu suchen. Die Schuld liegt nicht bei den einzelnen Menschen, sondern in einem Bildungssystem, das über Jahrzehnte vernachlässigt worden ist.

Aktuell gibt es einen Volksantrag mit mehr als 100.000 Unterschriften für die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium in BW. Daran sieht man, wie groß der Wunsch nach Veränderungen am Bildungssystem ist. Sie sagen gerne, wenn man Sie fragt, was sich an Schule ändern muss, dass es Rahmenbedingungen brauche, die Kindern und Jugendlichen Wahlfreiheit geben. Dass sie Selbstwirksamkeit und Lust am Lernen ermöglichen sollten. Wie schaffen wir diese Rahmenbedingungen?

Blume: Es wird immer gesagt, wir brauchen Mut. Mit der Vorsitzenden der Kultusministerkonferenz habe ich auf einem Podium gesprochen, auch sie hat gesagt, wir brauchen Mut. Da frage ich mich: Mut braucht man ja in einer Situation, in der man etwas anders macht, als es eigentlich gedacht ist. Ich würde mir eher wünschen, dass die Strukturen so sind, dass man nicht mehr mutig zu sein braucht. Es gibt ja genug Konzepte, die muss man aber in die Fläche bringen. Es gibt das Frei-Day-Konzept als relativ radikale Maßnahme, wo jeden Freitag Schülerinnen und Schüler zu eigenen Projekten arbeiten, auch in Rastatt gibt es ein ähnliches Projekt. Und nicht zuletzt haben wir natürlich die Alemannenschule in Wutöschingen (Kreis Waldshut). Dort haben sie das gemacht, wovon viele sagen, das gehe eigentlich nicht: den Rahmen dessen zu sprengen, wie wir uns Schule vorstellen. Und die Schülerinnen und Schüler haben trotzdem ein sehr gutes Abitur.

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