Immer häufiger müssen in Clubs oder bei Konzerten in Baden-Württemberg Smartphones abgegeben oder Handykameras abgeklebt werden. Denn heutzutage wird beinahe jeder Moment zuerst digital festgehalten, oft landen Fotos und Videos direkt auf Social-Media-Plattformen. Das birgt nicht nur rechtliche Probleme - Stichwort Datenschutz und Urheberrechtsverletzungen. Fast noch mehr geht es Künstlern und Veranstaltern mit ihren Maßnahmen um den Moment, um das Gefühl, das Hier und Jetzt. Doch warum ist das überhaupt nötig, wie reagieren die Menschen darauf und was macht der ständige Griff zum Smartphone mit unserer Gesellschaft?
Montagabend, Porsche-Arena, Stuttgart. In einem abgesperrten Bereich direkt hinter dem Einlass stehen einige Menschen, schauen auf ihre Smartphones, frönen ihrer Sucht. Zumindest macht es den Anschein. Vielleicht haben sie auch noch wirklich Wichtiges zu erledigen, an diesem Abend, der als "handyfreies Konzerterlebnis" angekündigt ist. Doch an diesem kleinen Ort des Rückzuges, der an Raucher-Bereiche an Flughäfen oder Bahnhöfen erinnert, sind Handys erlaubt - im Gegensatz zum Rest der Halle.
Smartphone wird in Hülle magnetisch verschlossen
Bob Dylan ist in der Stadt. "Die Verwendung von Mobiltelefonen, Kameras, Ferngläsern oder Aufnahmegeräten ist im Veranstaltungsraum nicht gestattet", hieß es bereits vorab. Daher wandert das Smartphone in eine gepolsterte Hülle, die beim Einlass magnetisch verschlossen wird. Handy weg, Kopf an.
"Diese Dokumentation der eigenen Lebensspuren, die wir permanent betreiben, führt zu vielen wirklich absurden Situationen", sagt Oliver Zöllner, Professor am Institut für Digitale Ethik der Hochschule der Medien in Stuttgart (HdM). Gerade bei Konzerten bekomme man wegen der zahllosen nach oben gestreckten Arme, deren Besitzer gerade filmen oder fotografieren, kaum noch etwas vom eigentlichen Konzertgeschehen mit.
Als eine Hauptursache macht der Experte die kulturelle Prägung aus, da man immer ein Smartphone dabei habe und alles fotografieren und filmen müsse. Man habe Angst, den perfekten Moment zu verpassen, meint er, und spricht von einer "selbst auferlegten Dokumentationspflicht". Doch: "Möglicherweise verpasse ich den Moment genau dadurch, dass ich mich die ganze Zeit nur auf die Filmaufnahme konzentriere und nicht auf das eigentliche Konzertgeschehen."
Handy-Kameras werden in "Fridas Pier" im Club-Bereich abgeklebt
Genau das hat auch Benjamin Kieninger erkannt. Der Geschäftsführer des Event- und Clubschiffes "Fridas Pier", welches auf dem Neckar in Stuttgart liegt, hat vor rund einem Jahr ein Kameraverbot für die Tanzfläche eingeführt. In der Anfangszeit des Clubs hatte er versucht, die Gäste mit netten Plakaten zum freiwilligen Handyverzicht zu animieren. Allerdings funktionierte das nicht wirklich, so dass Kieninger im Herbst 2023 gemeinsam mit seinem Team entschied, die Smartphone-Kameras im Club-Bereich abzukleben.
"Oben im Open-Air-Bereich habe ich überhaupt keine Probleme damit", sagt er. "Aber wenn die Gäste unten im Club feiern, einen schönen Abend haben und sich einfach gehen lassen wollen und einen Save-Space suchen, da wollten wir die Hoheit haben, welche Bilder raus in die Welt gehen."
Daher erstellt sein Team eigene Videos, die auf Social Media veröffentlicht werden, zum Beispiel von Feiernden im Club - aber bei denen die Persönlichkeitsrechte gewahrt werden. Es gehe um den Respekt vor Anderen, sagt Kieninger, und "hier einfach eine schöne Nacht zu feiern, ohne auf der Jagd nach dem nächsten schönen Bild zu sein. Da soll sich die Erinnerung lieber in die eigenen zwei Augen einzubrennen." In Fridas Pier solle jeder feiern und loslassen können, ohne zu befürchten, dass unvorteilhafte Bilder oder Videos am nächsten Tag im Internet stehen, so der Geschäftsführer.
Experte: Fähigkeit, den Moment zu genießen, schwindet
Gerade das Erleben von besonderen Momenten werde durch das ständige Zücken des Smartphones verändert, weiß auch Oliver Zöllner. "Wir verlieren vielleicht ein bisschen die Fähigkeit zur Muße, zum Genießen des realen Augenblicks in der Realität", sagt er.
Das verändere auch das gesellschaftliche Miteinander. Schließlich würden alle Ereignisse, Landschaften und Menschen zu einer Art Fotokulisse degradiert. Das sehe man auch in anderen Lebensbereichen, wie beispielsweise dem Urlaub. Auch wenn gewisse Sehenswürdigkeiten oder Sonnenuntergänge schon tausendfach in den Sozialen Medien hochgeladen wurden, mache jeder noch eigene Bilder oder Videos: "Wir verlieren bis zu einem gewissen Punkt die Fähigkeit, Dinge gut in unserem Kopf abspeichern und erinnern zu können, weil wir uns vollkommen darauf verlassen, diese Dinge an ein Gerät auszulagern."
Handy-Verzicht löst häufig Stress aus
Der Mensch sei mittlerweile so stark auf das Smartphone konditioniert, dass man das Gefühl habe, ständig darauf zugreifen können zu müssen. Der Verzicht falle daher - wenn auch nur wenige Stunden - schon sehr schwer. Deswegen überrascht es Zöllner auch nicht, dass der "Handy-Bereich" beim Konzert von Bob Dylan auch genutzt wurde. "Oft reagieren wir mit großem Stress darauf, wenn wir das Handy nicht dabei haben oder zumindest nicht benutzen können", sagt er.
Handyverbote sind demnach eine Gratwanderung. Das weiß auch Benjamin Kieninger, der externen Veranstaltern, die für ein Konzert oder Event Fridas Pier gemietet haben, das Abkleben der Kameras nicht vorschreibt. Dennoch höre er aus der Szene - gerade aus Berlin - dass der Handyverzicht mittlerweile durchaus verbreitet sei.
Abkleben von Handykameras: Verständnis bei Gästen in Fridas Pier
Auch hätten die meisten seiner Gäste Verständnis für das Abkleben. Nur Teilen des jüngeren Publikums habe man die Gründe etwas ausführlicher erklären müssen. Dann hätten aber auch sie Verständnis gezeigt, so dass es eigentlich keine Beschwerden gebe: "Wir wollten, dass unsere Gäste in Ruhe gelassen werden und das wird zu 99 Prozent eigentlich auch akzeptiert und für gut befunden."
Ohnehin ist für Kieninger das Abkleben der Handykameras nicht in Stein gemeißelt. Die Maßnahme werde regelmäßig im Team diskutiert. Ein komplettes Handyverbot mit dem Einsammeln von Smartphones kommt für den Geschäftsführer nicht infrage.
Rapper Rin spielt "No Phones allowed Tour"
Ähnlich wie Kieninger verfährt auch der bundesweit erfolgreiche Rapper "Rin" aus Bietigheim-Bissingen (Kreis Ludwigsburg). Seine Mitte November beginnende Tour, die er gemeinsam mit dem Sänger "Schmyt" spielt, trägt gar den Namen: "No Phones allowed Tour". Bei den Konzerten - am 19. November spielt er auch in Freiburg - müssen die Handykameras abgeklebt werden.
Das begründet der Künstler in einem längeren Video-Statement auf Instagram. Einerseits geht es Rin darum, seine Fans zu schützen: "Ich merke einfach, dass ihr viel zu oft unter Druck steht, diesen ganzen Social-Media-Quatsch mitzumachen." Außerdem sei bei den Live-Shows in den vergangenen Jahren "das Experimentelle und Freie" ein wenig verloren gegangen. "Ich würde super gerne Songs vom neuen Album spielen, ohne dann zu wissen, dass der Scheiß komplett im Netz landet", sagt Rin. Dafür gibt es aus seiner Community sehr viel Verständnis in Form von tausenden Likes und jede Menge positiver Kommentare.
Geht es nach Medienexperte Oliver Zöllner sind solche Maßnahmen aber vor allem eines: Denkanstöße. Denn letztlich müsse jeder sich selbst hinterfragen, ob man immer alles dokumentieren, fotografieren und teilen müsse. "Zerstöre ich nicht möglicherweise den schönen und singulären Augenblick dadurch, dass ich ihn vervielfältigt habe?", fragt er. Ohnehin erinnere man sich häufig an flüchtige Momente, die man gerade nicht aufgenommen habe. Und eben diese Erinnerungen seien meist viel wertvoller als Fotos oder Videos auf Social Media.