Ob bei Instagram, Snapchat oder YouTube – überall finden sich perfekte Gesichter, ideale Körper. Eine Bilderflut, die via Smartphone auf Kinder und Jugendliche einstürzt. Vergleiche mit den Idolen führen zu Verunsicherung. Hinzu kommen Fernsehformate wie „Germany's Next Topmodel“ mit Heidi Klum oder Berichte in Zeitschriften. Und tradierte Schlankheitsideale, mit denen schon die Mütter aufgewachsen sind, und die sie – bewusst oder unbewusst – an ihre Töchter weitergeben. So stehen scheinbar harmlose Diäten oft am Beginn einer Essstörung.
Thigh Gap, Toblerone-Tunnel, AbCrack: Wettbewerbe in den sozialen Medien
Mit Challenges, also Wettbewerben in den sozialen Medien, versuchen Jugendliche, ihre Körper auf ein bestimmtes Ideal zu trimmen. Beim „Thigh Gap“ zum Beispiel müssen die Oberschenkel so dünn sein, dass beim Stehen eine möglichst große Lücke zwischen den Beinen entsteht. Bei Mädchen, die den sogenannten „Toblerone-Tunnel“ „schaffen“, passt ein Schoko-Riegel zwischen Intimbereich und Oberschenkel. Bei der AbCrack-Challenge dagegen soll ein Spalt vom Brustbein bis zum Nabel sichtbar werden. Das ist aber nur durch hartes Bauchmuskeltraining und extreme Diät zu erreichen.
Das Internet, so beobachtet die Psychiaterin Dagmar Pauli, ist voll von einschlägigen Fotos und Workout-Vorschlägen für solche Challenges, aber auch andere Formen des Körper-Tunings.
Körperwahrnehmungsstörungen sind bei Jugendlichen weit verbreitet
Was folgt, ist meist eine sogenannte Körperwahrnehmungsstörung, bei der der eigene Körper völlig verzerrt wahrgenommen wird. Auch Depressionen und Stress sind die Folge.
Modefotograf Rankin: Schattenseiten der Selfies
Laut der „Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung“ empfinden sich gut die Hälfte aller 15-jährigen Mädchen und ein Fünftel der gleichaltrigen Jungen als zu dick – dabei sind sie normalgewichtig. Mehr als die Hälfte der 15-jährigen Mädchen hat bereits Diäterfahrung gesammelt, jedes vierte sogar mehrfach. Rund 20 Prozent der Jugendlichen zwischen 11 und 17 Jahren weisen einzelne Symptome gestörten Essverhaltens auf. Aber nur ein kleiner Teil von ihnen entwickelt eine Magersucht, eine Bulimie oder eine Mischform.
Jungs greifen für den Muskelaufbau auch zu anabolen Steroiden
Martina Hartmann arbeitet seit 20 Jahren bei „Dick und Dünn“, einem Beratungszentrum bei Essstörungen in Berlin-Schöneberg. Auch sie kennt die Schönheitsideale und Körpernormen, denen Kinder und Jugendliche heute nacheifern. Und auch wenn bislang vor allem Mädchen die Angebote von „Dick und Dünn“ nutzen: In den vergangen Jahren suchen immer häufiger auch Jungs die Beratungsstelle auf, erzählt Hartmann.
„Dick und Dünn“ bietet Präventions-Workshops in Schulen an. Nach Geschlechtern getrennt. Für Mädchen und Jungs geht es dabei oft um intime Details. In gemischten Gruppen trauten sich deshalb viele nicht, offen zu reden, meint Hartmann. Bei den Jungen zum Beispiel ist ein wichtiges Thema der gefährliche Griff zu sogenannten „Anabolika-Kuren“ zwecks Muskelaufbau. In Bodybuilder- und Fitness-Kreisen wird der Griff zu anabolen Steroiden auch „stoffen“ genannt.
Falsche Schlankheitsideale und Leistungsdruck bei Mädchen
Bei den Mädchen hingegen geht es in den Workshops vor allem um falsche Schlankheitsideale, Leistungsdruck, Social Media und den Diät-Wahn. In den neuen Medien werben Influencer nicht nur unverhohlen für das extreme Training oder den extremen Nahrungsverzicht. Verschiedene Angebote sollen den jungen Mädchen das Abnehmen erleichtern. Wo früher mühsam Kalorien gezählt werden mussten, werden heute spezielle Apps genutzt.
Vermeintlicher Influencer-Alltag: inszenierte werbefinanzierte Scheinwelt
Was Kinder und Jugendliche, aber auch Erwachsene oft nicht zur Kenntnis nehmen: Vordergründig geht es bei YouTube, Instagram und Co. um Sport und Fitness, Schönheit und Lifestyle. Dahinter aber steht eine riesige Werbe-Maschinerie. Die vermeintlichen Alltags-Posts sind hochprofessionell durchgestylt und inszeniert.
Kindern und Jugendlichen klar zu machen, dass die Wirklichkeit viel bunter und diverser ist, das ist die nächste große Aufgabe in der Auseinandersetzung mit Social Media.
Neuer Trend: Body positivity
Die „Body positivity“-Bewegung setzt sich dafür ein, jeden Körper zu akzeptieren wie er ist. Dafür präsentieren Frauen sich ungeschminkt mit Fettrollen, Falten, Dehnungsstreifen oder Narben – auch auf Instagram und Co.
Die Bloggerin Magda Albrecht mahnt aber: Der Begriff „Body positivity“ berge die Gefahr, dass er nur auf das Individuum bezogen werde. Nach dem Motto: Liebe dich selbst und alles wird gut. Das sei eine individuelle Strategie, bekämpfe aber nicht die diskriminierenden Strukturen, wie etwa Benachteiligungen Dicker bei der Jobsuche. Das macht die junge Aktivistin auch in ihren Vorträgen und Workshops deutlich. Zu ihr kommen Pädagoginnen und Pädagogen aus Kitas oder Jugend-Freizeit-Einrichtungen. Es geht etwa um die unterschiedliche Bewertung von Körpern, die schon in Kitas und Grundschulen an der Tagesordnung ist.
Medienkompetenz bei Kindern fördern und Inhalte hinterfragen
Bislang ging es bei der medienpädagogischen Arbeit vor allem um Datenschutz und Privatsphäre, Cybergrooming, also Pädophile, die online Kinder ansprechen, um Mobbing und um die Frage, wann und wie lange Kinder und Jugendliche im Netz sein sollten. Jetzt aber ist eine kritische Auseinandersetzung mit den Inhalten gefragt.
Zuhause sollten Eltern vor allem dann hellhörig werden, wenn ihr Kind große Selbstzweifel äußert; vor allem, wenn diese sich stark auf das Äußere beziehen.
Körperkult und Optimierungswahn führen bei Kindern und Jugendliche vielfach zu Selbsthass und Essstörungen. Eltern sollten ihre eigenen Körperideale kritisch hinterfragen. Statt auf Diäten und Schrittzähler zu setzen, sollte sie lieber Freude an Geschmack und Bewegung fördern. Die Werbebranche – allen voran die Influencerinnen – sollten sich ihrer Verantwortung bewusster werden. Wenn Appelle nicht helfen, müssen gesetzliche Regelungen her. Und auch die Medien sollten überlegen, ob die tausendste Diät-Sendung wirklich sein muss. Alle zusammen sollten den Druck rausnehmen, damit Kinder und Jugendliche zufriedener aufwachsen können.
SWR 2020