Dieser Diebstahl geistigen Eigentums ist bis heute kaum aufgeklärt, die Nazi-Namen sind geblieben – auch, weil viele Verlage ungern ihre Archive öffnen. Doch mit jedem neu entdeckten Fall wächst der öffentliche Druck.
Alice Urbach: erfolgreiche Köchin im Wien der 1920er
Während die Romane jüdischer Autorinnen und Autoren im NS-Regime meist verbrannt wurden, bekamen Sachbücher teils "arische" Verfasser. Vom medizinischen Nachschlagewerk bis zum einfachen Ratgeber – hinter den sogenannten arischen Autorennamen verbergen sich bis heute etliche Plagiate, geistiges Eigentum, das den jüdischen Verfasserinnen geraubt wurde. Dieser Diebstahl ist bislang kaum aufgeklärt.
Karina Urbach ist eine der ersten Historikerinnen, die sich dem Thema widmet und breite Aufmerksamkeit erhält. Vermutlich auch, weil ihr Fall ein persönlicher ist. Ihre Großmutter Alice Urbach wird 1886 in Wien in eine bürgerliche jüdische Familie hineingeboren. Ihr Vater, ein reicher Textilfabrikant, war politisch sehr aktiv.
Mit 32 Jahren beginnt Alice Urbach selbst Geld zu verdienen – und zwar als Köchin. Kochen ist ihre Leidenschaft. Völlig verarmt, macht sie aus ihrer Begabung eine Einnahmequelle. Zu Beginn der 1920er-Jahre eröffnet Alice Urbach in Wien eine Kochschule für angehende Ehefrauen – und wird mit ihren Rezepten für Tafelspitz oder Marillenknödel berühmt.
"So kocht man in Wien!": Jüdische Autorin schreibt Bestseller – und muss fliehen
1935 veröffentlicht Alice Urbach ihr ganzes Wissen in dem Kochbuch "So kocht man in Wien!". Das Buch erscheint im Münchener Ernst Reinhardt Verlag. Die 500 Seiten starke Enzyklopädie der Wiener Küche ist ein Bestseller, bis 1938 wird das Buch in drei Auflagen 25.000 Mal verkauft.
Doch nach dem sogenannten Anschluss Österreichs 1938 untersteht Alice Urbach als Jüdin den Nürnberger Rassegesetzen. Werke jüdischer Autorinnen und Autoren werden nicht mehr verlegt
Alice Urbach entdeckt ihr Buch nach Kriegsende – unter falschem Namen
Alice Urbach und ihren Söhnen gelingt die Flucht und sie überleben. Der Rest der Familie wird von den Nazis ermordet. Bald nach Kriegsende besucht Alice Urbach Wien. In einer Buchhandlung entdeckt sie zufällig ihr Kochbuch. Allerdings nicht mit ihrem Namen darauf. Der Verfasser heißt jetzt Rudolf Rösch. Als sie das Buch aufschlägt, ist klar: Es sind ihre Texte, ihre Rezepte, ihre Fotos.
Ernst Reinhardt Verlag übernimmt zunächst keine Verantwortung ...
Alice Urbach wendet sich an den Verlag, sie will ihre Autorinnenrechte zurück. Sie argumentiert: Das Buch sei ihr 1938 unter Druck genommen und arisiert worden und diese Arisierung solle jetzt beendet und rückgängig gemacht werden. Doch sie erreicht nichts. Auch als ihre Enkelin Karina Urbach sich Jahrzehnte später entschließt, ein Buch über ihre Großmutter und das Unrecht, das ihr angetan wurde, zu schreiben, bekommt sie vom Ernst Reinhardt Verlag in München dieselbe Antwort – sämtliche Archivunterlagen seien in den Kriegswirren verschwunden
... doch entschuldigt sich später
Die Oxforder Historikerin Karina Urbach hat keine Unterlagen aus dem Archiv vom Ernst Reinhardt Verlag in München bekommen, als sie zur "Arisierung" des Kochbuchs ihrer Großmutter Alice Urbach recherchierte. Im Oktober 2020 veröffentlichte die Historikerin dann im Ullstein Verlag ein vielbeachtetes Buch, eine Art Andenken an ihre Großmutter mit dem Titel: "Das Buch Alice". Der Titel wurde mittlerweile in fünf Sprachen übersetzt. Sein Erfolg hat dazu geführt, dass der Ernst Reinhardt Verlag nun doch auf Karina Urbach zugegangen ist. In dem Verlagsarchiv hätten sich jetzt Dokumente zu der Autorinnenschaft ihrer Großmutter gefunden, ließ man sie wissen – dazu insgesamt 18 Briefe von Alice Urbach an den Verlagsinhaber in den 1950er-Jahren.
Der Verlag hat sich formell bei Karina Urbach entschuldigt und er hat Taten folgen lassen.
Karina Urbach berichtet:
"So kocht man in Wien!" erscheint als limitierte Ausgabe – unter Alice Urbachs Namen
Darüber hinaus hat der Verlag den Originaltitel von Alice Urbach 2020 in limitierter Ausgabe herausgebracht – als Geste der Wiedergutmachung und um dem Andenken der Autorin gerecht zu werden.
Seit Erscheinen des Buches über ihre Großmutter hat Karina Urbach Hinweise auf weitere Raubgeschichten aus der Nazizeit bekommen. Ob Jura, Finanzwesen oder ein Buch zur deutschen Sprache – es deutet alles darauf hin, dass weitere Plagiate und Raube geistigen Eigentums ans Licht kommen.
SWR 2021