Wie funktioniert unser Gedächtnis?
Um das Vergessen zu begreifen müssen wir verstehen, wie unser Gedächtnis funktioniert. Dabei spielen zwei Begriffe eine zentrale Rolle: das Kurzzeitgedächtnis und das Langzeitgedächtnis. Damit sich eine Erinnerung festigen kann, muss sie vom Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis transportiert werden. Dieser Vorgang nennt sich Konsolidierung.
Die Konsolidierung ist ein dynamischer Prozess. Wenn die Erinnerung wieder hervorgerufen wird, wird sie im Kurzzeitgedächtnis neu aktiviert. Um dann wieder ins Langzeitgedächtnis übertragen zu werden, muss sie aufs Neue konsolidiert werden. Daher der Begriff Rekonsolidierung.
Stellen Sie sich also eine Erinnerung nicht vor wie einen unveränderlichen Satz in einem gedruckten Buch. Denken Sie vielmehr an ein Textdokument auf Ihrem Computer. Wenn Sie das Textdokument bearbeiten und erneut abspeichern, geht der alte Inhalt verloren. Vereinfacht gesagt können Sie sich so Konsolidierung und Rekonsolidierung vorstellen.
Wie funktioniert vergessen?
Dieser eben beschriebene Mechanismus ist die Grundlage, um zu verstehen, wie vergessen funktioniert. Während der Rekonsolidierung kann die Erinnerung verändert werden. Sie kann theoretisch also auch vergessen werden. Nikolai Axmacher, Forscher in der Abteilung für Neuropsychologie an der Universität Bochum, kennt Studien, in denen genau das versucht wurde.
In diesen Studien müssen sich die Teilnehmenden zufällig gewählte Namen für fremde Gesichter merken, die Erinnerung wird konsolidiert. Später zeigen ihnen die Forschenden die Gesichter erneut. Dadurch wird die Erinnerung wieder aktiviert. Bei manchen Gesichtern werden sie aber angewiesen, den zugehörigen Namen wieder zu vergessen. Die Erinnerung wird also verändert und rekonsolidiert. Im Anschluss zeigt sich, dass sich die Teilnehmenden tatsächlich schlechter an die Namen erinnern können, die sie vergessen sollten. Die Erinnerung wurde also tatsächlich überschrieben.
Warum kann man manche Erinnerungen nicht vergessen?
Den Großteil unserer Erinnerungen können wir aber nicht einfach so vergessen. Denken Sie einfach mal an eine peinliche Situation ihrer Wahl. Je mehr Sie versuchen, sie zu vergessen, desto stärker brennt sie sich ins Gedächtnis ein. Das mit dem Vergessen kann also nicht so einfach sein.
Gehen wir nochmal zurück zu den Begriffen Kurzzeitgedächtnis und Langzeitgedächtnis. In Wahrheit ist es komplizierter: Es gibt nicht nur das eine Langzeitgedächtnis, sondern verschiedene. Je nachdem, mit was für einer Art von Gedächtnisinhalt wir es zu tun haben. Bloße Fakten, die wir auswendig lernen, kommen in das semantische Gedächtnis. Dazu gehören auch die Namen-Gesichts-Paare aus der oben erwähnten Studie. Wenn wir uns allerdings an Dinge aus unserer eigenen Vergangenheit erinnern, dann werden diese Erinnerungen aus dem episodischen Gedächtnis abgerufen.
Es ist also ungefähr so: Fakten landen im semantischen Gedächtnis. Dinge, die uns persönlich betreffen, im episodischen Gedächtnis. Erinnerungen aus dem episodischen Gedächtnis absichtlich zu vergessen ist schwieriger als Inhalte aus dem semantischen Gedächtnis. Das hängt damit zusammen, dass autobiografische Erinnerungen oft mit starken Gefühlen verknüpft sind. Diese zu unterdrücken ist manchmal einfach nicht möglich. Ein extremes Beispiel dafür ist die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS).
Wenn uns die Erinnerung ergreift
Bei Menschen, die an einer PTBS leiden, führt die bloße Erinnerung an das Trauma oft dazu, dass sie die gemachte Erfahrung aufs Neue erleben – mitsamt den damit verbundenen Gefühlen. Das wiederholte Nacherleben in Verbindung mit der Rekonsolidierung verfestigt die Erinnerung. Sie wird dann so stark, dass es ohne therapeutische Hilfe nicht möglich ist, damit einen Umgang zu finden; geschweige denn, die Erinnerung zu vergessen.
Wie sinnvoll sind Triggerwarnungen?
Das Beispiel zeigt, wann vergessen sinnvoll sein kann. Nämlich dann, wenn die Erinnerung für uns unangenehm ist. So ist es zum Beispiel auch bei inneren Konflikten. Diese können wir unter Umständen verdrängen, obwohl sie als Gedächtnisspur vorhanden sind. Der Forscher Nikolai Axmacher hat dieses Phänomen untersucht.
Verdrängen, um zu Vergessen
In dem Versuchsaufbau bekamen die Teilnehmenden Sätze präsentiert und mussten drei Wörter nennen, die ihnen spontan zu diesen Sätzen einfallen. Die Sätze, die präsentiert wurden, waren neutral oder drückten innere Konflikte des Lebens aus, z.B. "Ich kann nicht ‚Nein‘ sagen, wenn mich jemand um Hilfe bittet." Eine Stunde, nachdem die Teilnehmenden die Assoziationspaare auswendig gelernt haben, mussten sie sich einem Gedächtnistest unterziehen.
Bei dem Test kam heraus, dass sie sich an die Wörter zu den inneren Konfliktsätzen schlechter erinnerten als an die Wörter, die mit neutralen Sätzen assoziiert waren. Dabei waren die Teilnehmenden gar nicht dazu aufgefordert worden, sie zu vergessen. Nikolai Axmacher schlussfolgert, dass sie die Sätze verdrängt haben, um negative Emotionen abzuwehren.
Nicht wissen wollen, anstatt vergessen zu müssen
Eine weitere Möglichkeit, sich unangenehmen Informationen zu entziehen ist, sie überhaupt nicht aufzunehmen. In einer Studie hat der Bildungsforscher Ralph Hertwig mit den Teilnehmenden ein Gedankenexperiment gemacht.
Darin mussten sie sich vorstellen, im Urlaub in Griechenland gewesen zu sein. Dort kauften sie eine teure, antike Figur mit Echtheitszertifikat, obwohl sie Zweifel an der Echtheit des Zertifikats hatten. Nun wurde ihnen zu Hause angeboten, die Echtheit der Antiquität kostenlos überprüfen zu lassen. Die Teilnehmenden mussten sich anschließend entscheiden, ob sie das Angebot annehmen oder ausschlagen würden.
Erstaunlich oft lehnten die Befragten das Angebot ab. Das traf vor allem auf ältere Menschen zu. Ralph Hertwig führt das auf die höhere "emotionale Regulierungsfähigkeit" der Älteren zurück. Demnach könnten sie besser vorhersehen, was ihnen emotional guttut und was nicht. Allerdings ist es nicht immer von Vorteil, negative Emotionen zu vermeiden. Dafür liefert Ralph Hertwig ein Beispiel: Über die Hälfte der Menschen, die sich auf HIV testen lassen, holen sich ihr Testergebnis anschließend nicht ab. Vermutlich auch, weil sie sich nicht mit den möglicherweise negativen Konsequenzen auseinandersetzen möchten.
Außerdem haben wir oft nicht die Wahl, etwas zu verdrängen oder etwas erst gar nicht zu wissen. Etwa bei Angststörungen oder wenn sich bestimmte Abläufe am Arbeitsplatz ändern. Es stellt sich also die Frage: Wie können wir lernen zu vergessen?
Fit im Beruf: alte Arbeitsabläufe vergessen
Absichtliches Vergessen ist nicht nur im therapeutischen Kontext wichtig. Die Wirtschaftspsychologin Annette Kluge hat untersucht, wie Menschen alte Arbeitsroutinen am besten vergessen können, um sich an neue Arbeitsvorgänge anzupassen. Die Idee dahinter war, dass Menschen eine Gedächtnisspur nicht löschen müssen, um sie zu vergessen, sondern dass es ausreicht, sich nicht mehr daran zu erinnern. Das bedeutet also, dass man diejenigen Hinweise entfernen sollte, die eine Erinnerung aktivieren.
Laut Annette Kluge ist es dabei aber wichtig, die Balance zu bewahren. Denn manche Aspekte sind zwar Hinweisreize für bestimmte Erinnerungen, aber gleichzeitig auch elementare Bestandteile einer produktiven Arbeitsweise. Als Beispiel nennt Annette Kluge die Zusammenstellung der Mitarbeitenden. In ihrer Untersuchung hat die Durchmischung der Arbeitsgruppe nicht dazu geführt, dass die neue Routine besser erlernt wurde. Die Psychologin vermutet, dass das daran liegt, dass nicht nur die neue Routine, sondern die gesamte Zusammenarbeit neu erlernt werden musste.
Vergessen: schwerer als gedacht
Etwas zu vergessen ist wahrscheinlich ebenso wichtig wie sich an etwas zu erinnern. Denn vergessen ist wichtig, damit wir uns auf Veränderungen einstellen. Wir können aber nicht einfach auf Knopfdruck vergessen. Deswegen erforschen Wissenschaftler*innen, welche Methoden uns das Vergessen erleichtern, ob auf dem Arbeitsplatz oder während der Psychotherapie.
SWR 2021