Musikalisch kehrt Rafał Blechacz immer wieder zu seinen Wurzeln zurück, zur Musik von Frédéric Chopin. Jetzt hat er sein viertes Album diesem Komponisten gewidmet, mit den beiden Sonaten op. 35 und op. 58 als Schwergewicht. Christoph Vratz mit seinen Höreindrücken über diese neue Aufnahme.
Geheimnisvoll und kalt kommt Chopins 2. Klaviersonate daher
Das Ende ist ein Nichts. Fast jedenfalls. Frédéric Chopin beschließt seine zweite Klaviersonate mit einem Presto, das in nur anderthalb Minuten vorbeirauscht. Ein dahinhuschendes Finale: der Nachtwind, der über die Gräber bläst– so hat es der Komponist Anton Rubinstein einmal formuliert.
Genau diesen ebenso geheimnisvollen wie kalten Charakter trifft Rafał Blechacz in seiner neuen Chopin-Aufnahme exzellent. Das ständige Auf und Ab, dieses Dahinrauschen, das Klarheit und Huschen miteinander versöhnt, dazu die seltsam verstörende Rastlosigkeit – all das zeichnet Blechacz eindrucksvoll nach.
Bis zum abrupten Ende! Plötzlicher Stillstand. Keine Botschaft… ein Rätsel.
Der berühmte Trauermarsch im dritten Satz der Klaviersonate Nr. 2
Chopins Trauermarsch als unerbittliche, düstere Prozession
Diese b-Moll-Sonate ist vor allem wegen ihres Trauermarsches berühmt. Blechacz macht daraus eine düstere Prozession, unerbittlich und doch zugleich mit einem Hauch von Trost: Die Melodie klingt wie ein einsames Lied.
Am Ende dieses Satzes geht Rafał Blechacz bewusst einen anderen Weg als vom Komponisten gefordert. Chopin schreibt noch kurz vor Ende des Satzes ein „forte“. Es soll richtig laut klingen. Doch Blechacz lässt den Satz mehr und mehr ausklingen, also leise verhallen.
So rundet sich das Bild eines Trauerzuges, der anfangs von Ferne heranzieht, vorübergeht und am Ende im Irgendwo verschwindet. Dieser Gedanke ist nicht neu, doch Blechacz deutet das äußerst schlüssig.
Das Scherzo aus Chopins 3. Klaviersonate
Rafał Blechacz beweist innige Vertrautheit mit Chopin
In der dritten Chopin-Sonate beweist der polnische Pianist seine innige Vertrautheit mit Chopins Musik. Auch in den Momenten großer Dramatik phrasiert er wunderbar natürlich.
Und darin spiegeln sich Chopins persönliche Neigungen: Er liebte den Gesang, den „bel canto“, über alles. Und so gelingt es auch Blechacz immer wieder, auf dem Klavier zu singen, feine Linien zu formen wie mit dem Silberstift.
Lauter kleine Oasen inmitten einer ansonsten gewichtig daherkommenden Musik: „Maestoso“, majestätisch, fordert Chopin in diesem Kopfsatz seiner dritten Sonate. Blechacz bläht diese Vorgabe nicht zum Tastendonner aus, sondern bringt sie wie selbstverständlich mit dem Hinweis „Allegro“ – also schnell – zusammen.
Blechacz spielt die Barcarolle op. 60
Sorgfalt, Leidenschaft und ein Klavierspiel ohne Allüren
Eine Konstante dieser Aufnahme: Rafał Blechaczs Klavierspiel kommt ganz ohne Allüren aus. Er sucht nach den Essenzen, nicht nach Effekten.
Das mag zunächst unspektakulär scheinen, bezeugt aber die Extraklasse seiner Kunst. Bei ihm paaren sich Sorgfalt und Leidenschaft, Ernsthaftigkeit und Fantasie. Nur so ist es möglich, die Nervosität zu Beginn des Scherzo-Satzes der dritten Sonate entsprechend einzufangen.
Zwei ergänzende Werke hat Rafał Blechacz ausgewählt: eine der beiden Nocturnes op. 48 und die Barcarolle op. 60. Auch hier: welche Genauigkeit des Erzählens! Deutlichkeit paart sich mit einer intimen, lyrischen Form des Vortrags. Das ist schön und klug zugleich. Einfach musikalisch.