Fast 1,8 Millionen Deutsche leiden an demenziellen Veränderungen, Tendenz steigend. Aber eines gilt immer: Musik ist ein Schlüssel ins Reich der Erinnerungen. „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass wir Menschen gar nicht mehr erreichen konnten – aber mit Musik ging es.“ Das sagt der emeritierte Professor Hans Hermann Wickel in SWR2, der sich seit langem mit dem Thema Musik und Demenz beschäftigt.
Die Wissenschaft belegt es in immer wieder neuen Studien: Wer demenziell erkrankt ist und Musik hört, gewinnt ein Stück seiner Identität zurück. Das funktioniert vor allem bei Musik, die mit der eigenen Lebensgeschichte verknüpft ist.
Biographisches kann auf diese Weise wieder emotional greifbar werden. „Dann gehen Fenster auf, und man weiß plötzlich wieder, wer man war“, sagt Wickel, der Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Musikgeragogik ist. In diesen Momenten könnten Pflegende oder Angehörige mit den Menschen auch wieder in Kommunikation treten.
Musik öffnet Fenster in die Vergangenheit
Die Gehirnforschung hat gezeigt, dass Musik besonders lange in unserem Gehirn gespeichert bleibt – auch dann noch, wenn bereits vieles Andere gelöscht worden ist.
„Wenn Worte und Bilder nicht mehr erkannt werden, kann Musik noch erkannt werden. Und das bis in weit fortgeschrittene Phasen der Demenz hinein“, so Wickel. „Sie ist in sehr tiefen Schichten unseres Gehirns abgespeichert, im motorischen Zentrum, das sehr stark mit Handlungen und Bewegungen verknüpft ist.“
Gedächtnis Wie wir uns an Musik erinnern
Wie viele Musikstücke wir im Gedächtnis abspeichern, ist nicht bekannt. Je heftigere Emotionen mit ihnen verbunden sind, desto schneller und dauerhafter erinnern wir uns an sie.
Musik verbindet und berührt
In SWR2 gibt der erfahrene Musikpädagoge und Musikgeragoge Tipps, wie man den Alltag von demenziell erkrankten Menschen mit Musik gestalten kann. „Musik bietet sich an, Beziehungen zu pflegen und Kommunikation zu ermöglichen. Musik ist etwas Verbindendes und Berührendes, ohne dass wir uns berühren müssen“, so Wickel.
Die Tischharfe sei ein Instrument, „das besonders gut geeignet ist, um niedrigschwellig zu musizieren“. Auch in Alteneinrichtungen gehe es dem Personal deutlich besser, wenn bei der Pflege Musik mit im Spiel sei.
Musikangebote für Menschen mit Demenz
Auch im Musik- und Konzertleben bekommen Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen zunehmend mehr Aufmerksamkeit. Die wenig inklusive Haltung der vergangenen Jahre ändere sich, beobachtet Wickel. Es gebe ein Bewusstsein für spezielle Angebote: besondere Konzertsettings, kürzere Programme, eine direkte Kommunikation mit dem Publikum in zum Teil leichterer Sprache.
Auch würden die Musiker*innen mittlerweile besser vorbereitet und gecoacht. „Wir haben die Erfahrung gemacht: Die erkrankten Menschen lassen sich bei solchen speziellen Angeboten von der Musik davontragen.“
Ein Beispiel sind die „Seelenbalsam-Konzerte“ der Württembergischen Philharmonie Reutlingen.
Demenzsensibles Musizieren
Mit dem Programm „Länger fit durch Musik!“ unterstützt der Bundesmusikverband Chor & Orchester demenzsensibles Musizieren. Gemeinsam mit dem Bundesseniorenministerium werden Projekte gefördert, die die Lebensqualität von Menschen mit Demenz verbessern.
Ziel sei es, Menschen mit Demenz auch in Chören und anderen Ensembles zu integrieren. Darüber hinaus gebe es, so Wickel, zahlreiche Weiterbildungsprogramme, um auch Ensembleleiter*innen für das Thema zu sensibilisieren.
Auch Musikschulen und Musikhochschulen bieten mittlerweile Angebote für Menschen mit Demenz an.
Demenz bei Profi-Musiker*innen
Wenn sich Profimusiker*innen demenziell verändern, könne das sehr schwierig sein für die Betroffenen. Wickel berichtet von sehr unterschiedlichen Erfahrungen: Selbst bei fortgeschrittener Demenz seien manche Menschen noch in der Lage, zu musizieren – „sie wissen manchmal fünf Minuten später gar nicht mehr, dass sie gerade fantastisch Klavier gespielt haben“.
Andere könnten komplexe Musik gar nicht mehr ertragen. Das Gehirn könne die Eindrücke nicht mehr verarbeiten. Dann, so Wickel, werde einfachere Musik lieber gehört, Popsongs oder Schlager. „Man muss ausprobieren, begleiten, hineinhorchen“, rät der Experte: „Wo kann ich den Menschen musikalisch unterstützen?“ Man müsse auch bereit sein, musikalische Veränderungen in Kauf zu nehmen und Rückschritte zu akzeptieren.
Eine liebevolle Begleitung und Ermöglichung weiterer musikalischer Teilhabe sei das einzige, was man tun könne – „aber eben auf dem Level, der dann eben möglich ist“.
Musikgeragogik Musik im Alter: Gemeinsam fit bleiben!
„Je mehr Sie Musik in Ihr Leben lassen, umso mehr steigert das die Lebensqualität auch im Alter“, sagt Hans Hermann Wickel. Er ist Autor des Buches „Musik kennt kein Alter. Mit Musik alt werden – ein Mutmacher“. In SWR2 spricht er über die Bedeutung des gemeinsamen Singens und Musizierens im Alter und gibt Tipps, wie Musik ganz leicht in den Alltag integriert werden kann.