Wenn man nicht mehr weiß, wo man hingehört: Ein Junge, der einmal die muslimischen Völker des Nordkaukasus anführen soll, wird verschleppt und am Hof des Zaren zum russischen Offizier geformt.
Olga Grjasnowa ist eine Autorin, die eindrucksvoll sehr unterschiedliche, aber stets hochaktuelle Lebenswirklichkeiten zur Sprache gebracht hat.
Grjasnowas neuer Roman führt die Leser in den Kaukasus
In ihrem gefeierten Debüt „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ von 2012 erzählte sie von der Heimatlosigkeit einer jungen Generation in der globalisierten Welt.
In einem späteren Roman konfrontierte sie ihre Leser mit den Schrecken des Bürgerkriegs in Syrien und den Zumutungen der Flucht. Ihr neuer Roman „Der verlorene Sohn“ führt in den Kaukasus und nach Sankt Petersburg.
Ein Kind wird zu Abschied und Neubeginn gezwungen
„Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“, so hat Hermann Hesse dereinst gedichtet. In seinen berühmten Zeilen verlangt und preist der Schriftsteller die Bereitschaft zum Abschied und Neubeginn. Was aber, wenn dieser Abschied gewaltsam erzwungen wird?
Wenn zudem ein Kind betroffen ist, das noch gar nicht in der Lage sein kann, autonom über sein Leben zu bestimmen, sondern abhängig ist von anderen? Und wenn dieses Kind schließlich für den Neubeginn aus allen ihm bekannten und geliebten Zusammenhängen gerissen und von Familie und Freunden abgetrennt wird?
Die Autorin kennt den Neuanfang in der Fremde aus eigener Erfahrung
Genau davon erzählt Olga Grjasnowa in ihrem neuen Roman. Der Abschied ist bei ihr kein Versprechen, sondern Zumutung und Überforderung. Die Schriftstellerin hat selbst eine bewegte Lebensgeschichte.
1984 im aserbaidschanischen Baku geboren, kam sie im Alter von elf Jahren mit ihrer Familie als „jüdischer Kontingentflüchtling“ nach Deutschland, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen. Sie weiß mithin, was es bedeutet, in der Fremde neu zu beginnen.
Der Roman beruht auf einer wahren Lebensgeschichte
Seit ihrem Debüt erzählt Olga Grjasnowa in ihren Büchern immer wieder von Menschen, die – freiwillig oder gezwungenermaßen – mit unterschiedlichen Welten und Kulturen konfrontiert werden.
Aber nicht die eigene Biografie ist Vorlage für ihren Roman. Olga Grjasnowa hat sich vielmehr eng an eine andere wahre Lebensgeschichte angelehnt, die jedoch zeitlich weit zurück in eine andere Epoche führt und geografisch zugleich in teils abgelegene Regionen.
Der Junge Jamalludin wird zum Handelsobjekt zwischen zwei Kriegsparteien
Die Romanhandlung setzt im Sommer des Jahres 1839 in einem kaukasischen Bergdorf ein:
Der neun Jahre alte Junge ist Teil eines Handels zwischen Kriegsparteien. Jamalludins Vater, der Imam Schamil, hat die muslimischen Bergvölker Dagestans und Tschetscheniens am Nordrand des Kaukasus hinter sich versammelt und durch Mut und Geschick dem übermächtigen russischen Heer lange widerstanden.
Jamalludin wird nach Russland ausgeliefert und auf eine Karriere in der Armee vorbereitet
Doch jetzt belagert die russische Armee den letzten Rückzugsort des charismatischen Mannes, ein abgelegenes Bergdorf. Als Faustpfand für Verhandlungen fordern die Russen die Auslieferung von Schamils ältestem Sohn.
Der Scheich wehrt sich, doch zuletzt bleibt ihm keine Wahl, seine Lage und die seines Volkes sind aussichtslos. Aber niemand fühlt sich so ausgeliefert wie Jamalludin selbst, als er den verhassten Russen übergeben und entgegen der Abmachung nach Sankt Petersburg gebracht wird.
Der russische Zar Nikolai verfolgt ganz eigene Absichten, er will den Jungen aus dem Kaukasus zu einem Verbündeten heranziehen. Jamalludin wird in einer Kadettenanstalt auf eine Karriere in der Armee vorbereitet.
Eine freundliche Assimilation setzt sich in Gang
Im ruhigen, zwischen personaler und auktorialer Perspektive changierenden Erzählfluss und streng chronologisch folgt Olga Grjasnowa den Stationen einer freundlichen Assimilation.
Der sensible und begabte Junge ist empfänglich für die Reize des Neuen. Beeindruckt blickt er auf die prachtvollen Paläste der russischen Hauptstadt, die im krassen Gegensatz zu den einfachen Steinhäusern des Kaukasusdorfes stehen.
Die zwei Lebensrealitäten des Protagonisten sind konträr
Grjasnowa schreibt anschaulich und konkret, und sie arbeitet gern mit solchen effektvollen Entgegensetzungen. Die alte und die neue Lebensrealität – das sind unvereinbare Pole.
Jamalludin lernt Russisch und Französisch, die Sprache des Hofes. Zwar wehrt er sich zugleich gegen die fremden Einflüsse, aber die Wirklichkeit ist mächtiger.
Eine Rückkehr in den Kaukasus scheint ausgeschlossen
Die Erinnerungen an seine Familie verblassen allmählich, immer häufiger vergisst er das Gebet. Sämtliche Briefe, die er an seinen Vater schreibt, bleiben unbeantwortet. Er weiß nicht, dass sie abgefangen werden.
Der Heranwachsende rechnet schließlich kaum mehr damit, in sein früheres Leben zurückzukehren, und allmählich findet er sich damit ab. Er gewinnt Freunde, die aber allesamt eher blass bleiben, und verliebt sich.
Jamalludins Gefühle sind alles andere als eindeutig
Es gibt eine Reihe von Biografien über Schamils ältesten Sohn, den es ja wirklich gegeben hat. Sie porträtieren ihn als einen Menschen, der sich schließlich ganz mit der russischen Kultur identifiziert.
Der Faszination der verfeinerten Sitten des russischen Adels erliegt Jamalludin auch in Olga Grjasnowas Roman. Doch die Autorin gestaltet zugleich sein Zögern, seine Widerstände und seine Verlorenheit, die allerdings lediglich momenthaft aufblitzen.
Die anfängliche, fundamentale Irritation bricht selten vehement und eruptiv hervor. Jamalludin wird nur angeweht, aber nicht zerrissen von widerstreitenden Gefühlen.
Nach 15 Jahren Gefangenschaft folgen Rückkehr und Ernüchterung
Der mentale Abstand zu seinem früheren Leben wächst kontinuierlich. Als Schamil den verlorenen Sohn nach fünfzehn Jahren im Tausch gegen eine Gruppe von Geiseln zurückfordert, bedeutet das für diesen mitnichten das ersehnte Glück:
Die Verwandlung in einen Soldaten seines Vaters ist für den unfreiwilligen Rückkehrer in den Kaukasus, der zu einem russischen Offizier erzogen wurde, unmöglich.
Das Leben im Kaukasus scheint Jamalludin perspektivlos und rückständig
Jamalludin ist kein formbarer Junge mehr, sondern ein erwachsener Mann, der über die Hälfte seines Lebens fern seiner Familie und unter dem Einfluss einer anderen Kultur gelebt hat. Selbst seine Muttersprache ist ihm fremd geworden.
Die Liebe und die Loyalität, die er gegenüber seiner Familie empfindet, werden überlagert durch die Erfahrung einer anderen, schillernden Wirklichkeit am russischen Hof. So schaut er mit Befremden auf den Alltag im Imanat seines Vaters und erkennt vor allem Rückständigkeit und Perspektivlosigkeit.
Fragen nach Fremdheit und Zugehörigkeit sind für Grjasnowa Lebensthemen
Olga Grjasnowa zeigt mit viel Gespür für Nuancen, wie schwer, ja aussichtlos es sein kann, fremden Zuschreibungen und Markierungen zu entkommen – zumal in einer Welt, in der strenge ethnische und soziale Grenzlinien gezogen werden.
Ohne eigenes Verschulden gehört der Junge aus dem Kaukasus, der zum Spielball von Machtinteressen wurde, zuletzt nirgendwo ganz dazu und ist nirgendwo mehr heimisch.
Es ist eine traurige Geschichte aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Fragen nach Fremdheit und Zugehörigkeit aber, die der Roman berührt, sind aktuelle Fragen geblieben. Für Olga Grjasnowa sind es Lebensthemen.