Bov Bjerg erzählt in seinem neuen Roman „Serpentinen“ die kaum zu ertragende Geschichte eines traurigen Helden dessen Vater, Großvater und Urgroßvater sich das Leben genommen haben und der nun selbst am Sinn seines Daseins zweifelt.
Aber den Kampf gegen die dunkle Ohnmacht namens Depression gibt er nicht auf - auch seinem eigenen Sohn zuliebe. Bjerg erzählt präzise, radikal und in ständig wechselnden Geschwindigkeiten, sodass die Lektüre dieser Schlangenlinienprosa nicht wenige Leser*innen aus der Bahn werfen wird.
Mit „Auerhaus" gelang Bjerg der literarische Durchbruch
Der 1965 im schwäbischen Heiningen geborene Schriftsteller und Kabarettist Bov Bjerg, der mit bürgerlichem Namen Rolf Böttcher heißt, studierte Politik und Literaturwissenschaften in Berlin und Amsterdam und ist Absolvent des renommierten Deutschen Literaturinstituts in Leipzig.
Er schrieb für unterschiedliche literarische und satirische Zeitschriften wie etwa den „Eulenspiegel“. Mit seinem Roman „Auerhaus“, der inzwischen verfilmt wurde, gelang ihm der literarische Durchbruch.
Bitterböse wird darin die Geschichte von sechs Freunden erzählt, die in eine Art Schüler-WG auf dem Dorf das Leben feiern und das von Frieder retten wollen, denn der zweifelt am Sinn seines Daseins.
Zweifel am Sinn des Daseins gibt es auch in Bjergs neuem Roman
In gewisser Weise ist Bov Bjergs neuer Roman „Serpentinen“ eine thematische Fortsetzung des Erfolgsbuchs. Mit einem Auszug konnte Bjerg schon beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb überzeugen.
Ein Ausflug, bei dem es um Leben und Tod geht
Der Roman beginnt mit einer Frage, die der Sohn seinem Vater immer wieder stellt: „Um was geht es?“
Die Antwort ist für den namenlosen Ich-Erzähler die größtmögliche Zumutung. Es geht tatsächlich um Leben und Tod, um das Unsagbare in der eigenen Familiengeschichte.
Vater und Sohn fahren im Mietwagen über die Schwäbische Alb, die Serpentinen hinauf und wieder runter. Der Ausflug aber ist viel mehr als eine allzu kurvige Reise zurück in die trostlose Vergangenheit des Vaters.
Der tödliche Familienfluch soll gebannt werden
Denn der Trip soll eine Art Therapie sein. Ein letzter Versuch, den tödlichen Familienfluch zu bannen, um sich und das Kind zu retten. Denn der Vater des Erzählers hatte sich, wie es umgangssprachlich heißt, das Leben genommen.
Genau wie vor ihm Großvater und Urgroßvater auch. Ein Grauen, über Generationsgrenzen hinweg.
Depressionen beeinflussen den Alltag des Protagonisten
Gegenüber dem Schwarzen Gott scheint der rasende und zugleich tiefenerschöpfte Held ohnmächtig zu sein. Dabei hat er alles getan, Ordnung in sein Leben zu bringen, eine erfolgreiche Existenz aufzubauen und Kraft gegen das düstere Ungeheuer namens Depression zu sammeln.
Ein Uniprofessor ist im Kampf mit sich selbst
Er war der Beste im Studium, bald ein anerkannter Unidozent. Aber der berufliche Aufstieg vermag seinen Blick in die Welt leider nicht aufzuhellen.
Was aber könnte gut sein für den traurigen Soziologieprofessor, der seine Profession als Kampfsport vor allem gegen sich selbst betreibt?
Die Zweifel am Leben bleiben trotz der Zeugung eines Kindes
In Jugendjahren hat ihm die Kunst geholfen, von der es im Roman heißt, sie sei „vielleicht Liebe“. Im Grunde hat er keine Wahl. Er muss sich auf das Leben und die Liebe selbst einlassen.
Ein Kind zeugen und dann den genealogischen Fluch beenden. Das Baby kommt, der Zweifel aber bleibt und damit die Frage, wie sich mit jener Prägung oder vielleicht auch Veranlagung beschäftigen, die ein Weiterleben trotz Erfolg im Beruf und Vaterglück so schwer macht.
Literaturkritiker Carsten Otte erzählt im #WarumdiesesBuch-Video, warum Sie „Serpentinen“ lesen sollten:
Die Antwort ist weitaus komplizierter, als Gesprächsoptimisten glauben mögen.
Der Sohn ahnt das Leid des Vaters
Noch aber wird der Mann am Steuer nicht gegen den nächsten Baum fahren, denn neben ihm sitzt sein Sohn, der zwar das Leid des Vaters ahnt, sich aber den Spaß nicht nehmen lassen möchte, vor allem jenes wohlig-irritierende Bauchgefühl, wenn das Auto sich in die Kurve legt.
Der neugierige Junge möchte Höhlen anschauen und nach Versteinerungen suchen, und selbstverständlich erfüllt der Vater diese Wünsche, selbst wenn ihn das Metaphorische an den Unternehmungen aufregt.
Die Verwandtschaft neigte zu Schweigen und Verharmlosung
Versteinert ist so viel in der väterlichen Vergangenheit, die von Legenden und Lügen geprägt ist, von „Familienbla“, zu dem es immer auch gehört hat, nicht nur die Selbstmorde der Ahnen mit einem eisernen Schweigen zu belegen, sondern auch mörderische Ansichten zu verharmlosen – was den Nachkommen und Erzähler zu radikaler Gegenrede veranlasst:
Historische Bezüge erscheinen plötzlich erschreckend aktuell
Bov Bjerg lässt seinen Erzähler sehr deutlich werden, erwähnt sogar die 381.569 Stimmen für die NPD in der baden-württembergischen Landtagswahl im Jahre 1968. Das waren knapp 10 Prozent.
Der Vater konnte sich also bestätigt fühlen. So wie sich die Rechtsradikalen auch heute über die Wahlerfolge der Nationalisten im Ländle freuen.
Es gehört zu den wirklich beunruhigenden Momenten in diesem Roman, dass die historischen Bezüge von erschreckender Aktualität sind und dass sich die Welt tatsächlich kaum verändert hat.
Bjerg erzählt in radikalen Kurzsätzen
Kein Wunder, dass der Protagonist zu saufen beginnt, viel Bier, um, wie er sagt, „die SCHWÄRZE zu verdünnen.“ Die Schwärze, das ist die Erinnerung an den Nazi-Vater, der sich mit einem Seil erhängt hat.
Bov Bjerg erzählt präzise, nämlich in radikalen Kurzsätzen, aber in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. So entsteht ein völlig unberechenbarer Textrhythmus.
Der Leser wird an die Grenzen des Schreibbaren geführt
Mal geht es in eine rasende Rechtskurve, dann wieder bei eher ruhiger Fahrt nach links, so dass die Lektüre dieser Schlangenlinienprosa durchaus zur Herausforderung wird. Wer will sich schon gerne aus der Bahn werfen lassen?
Doch wer bei diesem Thema auf Kitsch und Klamauk setzt, wird gnadenlos scheitern. Bjerg hat für seine inhaltlichen Serpentinen eine formale Entsprechung gefunden, und in diesem Kunstgriff besteht die große literarische Qualität des Romans.
Die dramaturgisch klug gesetzten Sprünge zwischen den Erzählzeiten, die sich wie schmerzhafte Schnitte anfühlen, führen uns an die Grenze des Schreibbaren.
„Serpentinen“ ist trotz des düsteren Kerns stilistisch überzeugend
Denn für den Todessüchtigen scheint in dunkelsten Sekunden selbst der Tod des eigenen Kindes eine Erlösung vom eigenen Leid zu bieten. Fast nebenbei wird erwähnt, dass auch Frieder, der Selbstmordkandidat aus dem „Auerhaus“, seinen Kampf aufgegeben hat.
Wenige bittere Pointen in „Serpentinen“ erinnern noch an die deutlich heitere Stimmung in der Dorf-WG, die sich im mittlerweile verfilmten Bestseller-Buch der lebensrettenden Freundschaft verschrieben hatte.
Bov Bjerg hat sich, ausgehend vom düsteren Kern seines Erfolgsromans „Auerhaus“, schriftstellerisch weiterentwickelt und einen nicht nur erschütternden, sondern auch stilistisch überzeugenden Roman geschrieben.