Was zur Hölle soll das?
Wer „Die Passion“ vor zwei Jahren gesehen hat, der rieb sich selbst als begeisterungsfähiger Fan bizarrer Unterhaltungsformate die Augen: Passiert das hier wirklich? Wird hier etwa zur besten Sendezeit der Leidensweg Christi als massentaugliches TV-Event bei RTL zelebriert? Und was machen eigentlich die ganzen Leute mit diesem grell leuchtenden LED-Kreuz?
Während die eingefleischte Trash-TV-Fanszene noch benommen den Kopf schüttelte, zelebrierten Sänger und Schauspieler wie Alexander Klaws, Ella Endlich, Mark Keller oder Laith Al-Deen in Essen zu mehr oder weniger passenden Gassenhauern der deutschen Popgeschichte „Die Passion“ als eventisiertes Superspektakel – moderiert von keinem geringeren als der Unterhaltungskoryphäe schlechthin: Thomas Gottschalk.
Mit Gassenhauern wird die Passion Christi erzählt
Zu Songs wie „Auf uns“ (Andreas Bourani), „Geboren um zu leben“ (Unheilig – ausgerechnet!), „Und wenn ein Lied“ (Söhne Mannheims), „Immer wieder geht die Sonne auf“ (Udo Jürgens) oder „Symphonie“ (Silbermond) wurde die Passionsgeschichte 2022 mittels vorab aufgezeichneten und eingespielten Szenen und einer Live-Bühnenshow erzählt.
Die Kaulitz-Brüder zeigten sich in ihrem Podcast später verwundert, aber auch amüsiert darüber, dass ihr Tokio-Hotel-Hit „Durch den Monsun“ von RTL verwendet und aus dem Kontext gerissen wurde – und zwar offenbar ohne davor nach einer Erlaubnis zu fragen.
Jesus kommt in der Realität des Privatfernsehens an
Parallel zu den recht klamaukigen und bisweilen befremdlichen Spielszenen erfolgte vor Ort eine sonderbare Prozession, bei der vorab gecastete Freiwillige ein riesiges leuchtendes Kreuz gemeinsam schulterten und dabei von einer Moderatorin mit Fragen zu ihren Gefühlen und ihrem Glauben gelöchert wurden.
RTL nennt das eine „moderne und ungewöhnliche Darstellung der letzten Tage im Leben von Jesus Christus“.
Ob Jesus in der S-Bahn, in einem Supermarkt, neben Katy Karrenbauer („Hinter Gittern – Der Frauenknast“) im Gefangenentransport oder an der Würstchenbude inklusive ikonischem Gastauftritt von Rainer Calmund: Der TV-Sender ist nicht darum verlegen, die Passionsgeschichte mit allen Mitteln der Kunst in die Gegenwart – oder besser: in die Realität des Privatfernsehens – zu holen.
Was bedeutet hier „zeitgemäß“?
Und was sagen die Kirchen zu diesem kuriosen Schauspiel? Die sind offenbar begeistert von der „zeitgemäßen“ Darstellung der Passion Christi.
Wie Kai Sturm, RTL-Bereichsleiter Entwicklung, auf Nachfrage mitteilt, seien die Reaktionen kirchlicher Vertreter auf die RTL-Premiere an Ostern 2022 „sehr positiv“ ausgefallen.
Doch nicht nur das: Die Kirchen scheinen sich von dem TV-Event sogar noch mehr zu versprechen. Das zeigt ein Blick in die Internet-Auftritte der Glaubensgemeinschaften vor der diesjährigen RTL-Passion, die RTL am 27. März live ausstrahlt.
Kirchen begleiten das TV-Spektakel aktiv
So schlägt beispielsweise die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) vor, das Event in Gemeinden oder Hauskreisen gemeinsam anzuschauen. Eigens dafür entwickelte Materialien sollen das Happening begleiten.
Auch das katholische Bonifatiuswerk sieht nichts Verwerfliches an der „Trashifizierung“ der Passionsgeschichte – ganz im Gegenteil. Es hat ein 28-seitiges kostenloses Impulsheft zum TV-Event im Angebot und war laut RTL-Sprecher bereits im Vorfeld beratend in die Sendung eingebunden – ebenso auch die Deutsche Bibelgesellschaft.
Missionieren mit RTL
Christliche Initiativen wie Alpha, das aus der anglikanischen Gemeinschaft kommend auch Glaubenskurse in Deutschland anbietet, nutzen das RTL-Event ebenso für ihre Zwecke.
Unter dem Motto „Vom TV-Zuschauer zum Alpha-Gast“ bietet Alpha speziell auf „Die Passion“ abgestimmte Online-Glaubenskurse für Zuschauer an, die durch das TV-Event Interesse am Glauben gefunden haben. Entsprechende Werbung werde auf RTL am Abend ausgestrahlt, heißt es auf der Kampagnenseite von Alpha.
Sogenannte „Glaubenshelfer“ sollen vonseiten des christlichen Missionierungsvereins „Go Movement“ Zuschauern zur Seite stehen, die sich weiter mit dem Christentum beschäftigen möchten. „Die Passion“ wird also zur Mission.
Das Privatfernsehen als Wissensvermittler in Sachen Glauben
Ob das so von RTL geplant war? Zumindest basiert die Idee zum Fernsehspektakel auf der Tatsache, dass immer weniger Menschen die Ostergeschichte kennen.
Tatsache ist auch, dass „Die Passion“ im Jahr 2022 sagenhafte 3,14 Millionen Zuschauer erreicht hat und der Marktanteil bei rund 15 Prozent lag. Eine gute Grundlage also für die Kirchen, neue Schäfchen zu finden.
Laut Kai Sturm, RTL-Bereichsleiter Entwicklung, war „Die Passion“ damit auf Platz 1 was die Zuschauerzahlen anging. Und „auch in den Sozialen Medien war ,Die Passion‘ Thema Nummer 1“, heißt es.
Trash-TV-Kenner sind begeistert von „Die Passion“
Mit einer Mischung aus Belustigung und ehrfürchtigem Respekt vor so viel Mut zum Trash in Sachen Glauben kommentierten Connaisseure des Unterhaltungsfernsehens wie Spiegel-Kolumnistin Anja Rützel oder das Trio Colin Gäbel, Mark Oliver Lehmann und Tim Heinke vom Trash-TV-Podcast „Erdbeerkäse“ leidenschaftlich das Event.
Und auch in diesem Jahr sei das Medieninteresse „sehr groß“, heißt es seitens RTL auf Nachfrage. Dieses Mal findet das Event in Kassel statt, erneut mit einer Besetzung, die bei Kennern des Genres gleichermaßen Vorfreude und Fremdscham auslösen dürften.
Die Besetzung lässt Freunde der seichten Unterhaltung jubeln
Ben Blümel, ausgerechnet der Sänger des 2000er-Hits „Engel“, mimt in diesem Jahr Jesus von Nazareth.
Jimmy Blue Ochsenknecht – der im realen Leben unlängst mit grenzwertigen Aussagen zu seiner Tochter aufgefallen ist und sich auch sonst nicht gerade mit Ruhm bekleckert – spielt passenderweise Judas. Das Jünger-Team umfasst in die Jahre gekommene Show-Größen wie Stefanie Hertel, Mola Adebisi oder Joey Heindle.
Und ist es eigentlich ein Zufall, dass ausgerechnet Maria, gespielt von Sängerin Nadja Benaissa, in einem früheren Leben ein „No Angel“ war?
Moderativ wird die Passions-Show in diesem Jahr übrigens begleitet von Hannes Jaennicke, Gastauftritte von Jenny Elvers, TV-Richter Ulrich Wetzel und – Halleluja! – Rainer Calmund versprechen erneut großartige Unterhaltung zur besten Sendezeit.
Neue Mitglieder durch die RTL-isierung der Passion
Für die Kirchen ist es erneut „eine riesige Chance, Menschen mit dem Evangelium zu erreichen“, wie es in einem Kommentar im christlichen Medienmagazin „Pro“ heißt.
Und vor Ort in Kassel wird sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche „Die Passion“ mit flankierenden Aktionen dazu nutzen, potentielle (neue) Mitglieder zu gewinnen. Bei der Bühne auf dem Friedrichsplatz werden am 27. März Tausende kleiner Kreuze verteilt und die Karlskirche wird für Dialog geöffnet sein.
Und die Kasseler Stadtdekanin Barbara Heinrich sagt gegenüber dem evangelischen Pressedienst (epd), dass „Die Passion“ eine Chance sei, dass Menschen von der christlichen Botschaft berührt würden und mit den Kirchen in Kontakt kämen: „Und nachdem RTL die Stadt verlassen hat, sind wir ja noch da.“