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Warum Grenzen für Kinder wichtig sind und wie man sie setzt

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Autor/in
Elena Weidt
Bild von Elena Weidt, Multimedia-Reporterin und Redakteurin SWR Wissen aktuell
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Elena Weidt
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Immer wieder hören Eltern den Vorwurf, ihren Kindern zu wenig Grenzen zu setzen und damit eine egoistische Generation heranzuziehen. Der autoritäre Erziehungsstil gilt heute als überholt, doch was ist die Alternative? Viele Eltern fühlen sich im Alltag ratlos, wenn ihr Kind vermeintlich testet, wie weit es gehen kann.

Tatsächlich beklagen sich ganz viele Eltern, dass ihre Kinder einfach nicht hören, sagt die Autorin und Erziehungsexpertin Nora Imlau. Interessant ist, dass viele Eltern heute für sich behaupten, dass sie ihre Kinder auf Augenhöhe begleiteten und keinen Gehorsam verlangen wollen. Und trotzdem ist da die Erwartung, dass Kinder gefälligst hören sollen auf das, was die Eltern sagen, so Nora Imlau, die selbst Mutter von vier Kindern ist.

Kinder testen keine Grenzen
Grenzen sollten nicht unumstößlich sein
Ausnahmen erlauben
Kinder brauchen für ihre Entwicklung auch Frust
Zugewandtes Durchsetzen
Kinder verstehen Regeln erst ab einem bestimmten Alter
Kindern Regeln altergerecht erklären
Autoritativer Erziehungsstil – ein Mittelweg?
Kinder leiden unter zu autoritärer Erziehung
Kinder reagieren unterschiedlich auf Grenzen

Kinder testen keine Grenzen

Familientherapeut Jesper Juul, der 2019 gestorben ist, vertrat die Ansicht, dass Kinder keine Grenzen brauchen, sondern Kinder welche haben. Damit meinte er, dass jeder Mensch eine eigene Grenze hat. Die sollten Eltern auch ihrem Kind zugestehen. Vorausgesetzt es geht nicht um Situationen, die für Kinder gefährlich sein können wie im Straßenverkehr zum Beispiel.

Kinder "testen" auch keine Grenzen, sagte Juul, denn das impliziert eine negative Absicht, die Kinder nicht haben. Kinder wollen aber sehr wohl wissen, wer ihre Eltern sind und wofür sie stehen. Denn sie lernen, wie sie sich verhalten sollen, indem sie beobachteten, wie die Eltern es tun.

Grenzen sollten nicht unumstößlich sein

Häufig ist die Art und Weise das Problem, wie Eltern Regeln oder Grenzen aussprechen. Wenn Kinder nicht hören, beschweren sich Eltern gerne mit Sätzen wie "Das habe ich alles schon tausend Mal gesagt" oder "Warum hört eigentlich nie jemand auf mich?" Oder Eltern werden selber von ihren Emotionen überrollt. Was Kindern aber helfen würden, wären in solchen Momenten selbstsichere Erwachsene, erklärt Pädagogin Nicole Wilhelm, die Elternkurse bei familylab leitet.

Für mich wäre, das ist natürlich jetzt ein Ideal, ein sicherer Erwachsener jemand, der erwachsen bleibt. Das heißt, der sagen kann: So geht es mir mit deinem Verhalten, das will ich, das will ich nicht, das brauche ich, das lasse ich zu, das erlaube ich nicht.

Klar und zugewandt zu bleiben – das ist für viele Eltern eine große Herausforderung. Gerade auch, wenn man es selbst als Kind anders erlebt hat und in alte Muster verfällt oder ein besonders forderndes Kind hat. Eltern müssen ihre eigenen Grenzen kennen und klar kommunizieren können. Es macht einen großer Unterschied, ob man eine Grenze für sich oder gegen das Kind zieht, sagt Nicole Wilhelm.

Klar ist aber auch, dass das nicht für alle Familien gleichermaßen möglich ist, weil die Ressourcen sehr unterschiedlich verteilt sein können, gerade wenn man beispielsweise alleinerziehend ist oder ein zu pflegendes Kind zu Hause hat, wo Eltern ständig ihre Grenzen überschreiten müssen, weil es zu wenig Unterstützungsangebote gibt.

Kleines Mädchen mit einem Eis in der Hand sitzt glücklich lachend auf den Schultern des Vaters: In der Erziehung sind auch Ausnahmen von Regeln erlaubt: Ein Extra-Eis sorgt nicht dafür, dass das Kind den Eltern auf der Nase herumtanzt.
In der Erziehung sind auch Ausnahmen von Regeln erlaubt: Ein Extra-Eis sorgt nicht dafür, dass das Kind den Eltern auf der Nase herumtanzt.

Ausnahmen erlauben

Häufig beschäftigt Eltern die Frage, wie konsequent sie eigentlich sein müssen. Die Angst, Kinder könnten einem bei zu viel "laissez-faire" auf der Nase herumtanzen, ist bei vielen Eltern ein ständiger Begleiter. Ein Glaubenssatz, der hinterfragt werden muss, weil das einem Menschen nicht gerecht wird:

Es ist wichtig, dass wir einstehen für das, was uns wichtig ist. Und gleichzeitig müssen wir sehen, dass diese Konsequenz um der Konsequenz willen ein reines Machtinstrument ist.

Es geht nicht darum, Grenzen – auch nicht in der bedürfnisorientierten Erziehung – völlig abzuschaffen. Nora Imlau beschreibt in ihrem Erziehungsratgeber "Meine Grenze ist dein Halt", dass Grenzen aber nicht starr sein müssen. Sie erklärt es an einem Beispiel:

Es ist ein heißer Sommertag und mein Kind will das dritte Eis. Will ich jetzt diesen Kampf führen? Das ist legitim. Wir entscheiden: Es gibt dieses Eis nicht, Ende der Diskussion. Und dann muss ich aber auch damit leben können, dass mein Kind das blöd findet und einen Wutanfall bekommt. Und darauf hat es ein Recht: Es ist traurig, es wollte ein Eis und wir haben die Macht, die das Kind nicht hat.

Genauso gut kann man sich aber in dieser Situation auch entscheiden, eine Ausnahme zu machen und dem Kind das Eis zugestehen:

Ich lasse diese Grenze jetzt fallen, und ich benenne das dann auch genau so. Und ich schiebe nicht dem Kind die Schuld dafür zu.

Alternativ kann man dem Kind auch ein "Nein mit Schleife" anbieten, also eine Alternative. Statt dem Kind das dritte Buch vorzulesen, könnte man zum Beispiel vorschlagen, seine Hand zu halten, bis es einschläft.

Nora Imlau ist auch auf Instagram aktiv und teilt dort ihre Gedanken zu Erziehungsfragen:

Immer mehr Accounts entdecken das Thema Erziehung, geben Ratschläge und bieten die Möglichkeit, sich über Erziehungsfragen auszutauschen. Auch Danila Schmidt ist mit ihrem Account 'friedvollemutterschaft" erfolgreich und hat über 100.000 Follower:

Kinder brauchen für ihre Entwicklung auch Frust

Wenn Eltern merken, dass eine Grenze vielleicht gerade wenig sinnvoll ist, weil es einem Kind nicht gut damit geht, dann ist das kein Zeichen von Schwäche, sondern ein Zeichen von Reife, sich zu überlegen, was man vielleicht verändern könnte, damit es den Kindern mit dieser Grenze wieder gut geht.

Familienleben sei ein ständiges Aushandeln von Bedürfnissen, sagt Nora Imlau. Und Eltern dürften sich selbst dabei nicht vergessen. Manchmal braucht es ein klares Nein. Und Kinder müssen, um daran zu wachsen, auch mal frustriert über ein Nein sein.

Diese Frustration ist sehr, sehr wichtig für Kinder zu erleben, nicht nur für die Entwicklung der Empathie, sondern auch, um sich darauf einstellen zu können: Es gibt andere Menschen und die sind nicht nur für mich da, die sind auch für sich selber da. Und das kann man Kinder nicht lernen. Das müssen die erleben.

Zugewandtes Durchsetzen

Eltern müssen nicht andauernd ihre Machtposition behaupten, um Kinder zu "bändigen". Denn Kinder haben von sich aus ein großes Interesse, mit den Eltern in einer gesunden Beziehung zu stehen. Sie brauchen schließlich Erwachsene, die Verantwortung für sie übernehmen, die ihnen in bestimmten Situationen helfen, sagt Nora Imlau.

Allerdings haben Eltern häufig auch eine falsche Vorstellung vom Begriff Kooperation. Denn die Ziele von Eltern und Kindern können manchmal sehr weit auseinander liegen, schaut man sich beispielhaft die Situation morgens nach dem Aufstehen an. Während Kinder spielen wollen, wollen Eltern pünktlich aus dem Haus. Die Eltern wünschen sich dann, dass die Kinder "funktionieren", das ist aber was anderes als kooperieren.

Kinder handeln nicht gegen die Eltern, sondern für sich, sagt Danila Schmidt, Mutter und Gründerin von "Friedvolle Mutterschaft". Sich in solchen Momenten genauer anzuschauen, wer gerade was möchte und braucht, kann sehr helfen und wenn möglich eine kurze Pause einlegen, wenn die Situation zu eingefahren ist, rät Danila Schmidt.

Es gib aber auch Situationen, die sich nicht friedvoll lösen lassen. Wenn beispielsweise ein Kind partout nicht in das Auto einsteigen will, keine Strategie hilft und ein anderes Kind aber dringend abgeholt werden muss.

Dann müsse man auch mal das Kind in seinen Autositz setzen und es anschnallen, sagt auch Nora Imlau, die für eine bedürfnisorientierte Erziehung steht. Sie nennt das zugewandtes Durchsetzen. Das sollte aber so freundlich wie möglich und nur in Notsituationen geschehen, betont sie, weil das natürlich ein Übergriff auf das Kind sei.

Kleiner Junge sitzt angeschnallt grantig im Buggy: Anschnallen – ob im Buggy oder im Kindersitz – dient der Sicherheit des Kindes. "Schützende Gewalt" ist dann etwas, was Eltern ggf. dem Kind gegenüber durchsetzen müssen, auch wenn es dem Kind in der Situation nicht gefällt.
Anschnallen – ob im Buggy oder im Kindersitz – dient der Sicherheit des Kindes. "Schützende Gewalt" ist dann etwas, was Eltern ggf. dem Kind gegenüber durchsetzen müssen, auch wenn es dem Kind in der Situation nicht gefällt.

Kinder verstehen Regeln erst ab einem bestimmten Alter

Wie gut Kinder am Ende Regeln befolgen können, sei auch eine Frage des Alters und der Gehirnentwicklung, erklärt Entwicklungspsychologin Professorin Yana Fandakova von der Universität Trier.

Oft überschätzen Eltern, was Kinder in welchem Alter schon verstehen können. Während eine Achtjährige sehr wohl versteht, dass sie im Winter eine Jacke braucht, bevor sie rausgeht, kann es schwierig sein, das einem Dreijährigen zu erklären, der die Kälte vielleicht erstmal fühlen muss.

Die Wissenschaft zeigt auch, dass Kinder erst ab einem Alter von etwa vier Jahren mehr und mehr in der Lage sind, zu verstehen, was andere denken.

Kindern Regeln altersgerecht erklären

Wichtig ist auch, dass man den Kindern altersgerecht Regeln und Grenzen erklärt und sie miteinbezieht:

Es ist ein ziemlicher Unterschied, ob ich meinen Kindern, wenn wir am Strand sind, sage: Ihr dürft nicht schwimmen. Ihr dürft nur zehn Meter vom Strandkorb weggehen und diese Grenze qua Sanktion aufrechterhalte, ohne ihnen zu erklären, warum ich diese Grenze eingezogen habe. Oder ob ich ihnen sehr deutlich sage: Ihr dürft nicht weggehen, weil gerade jetzt hier am Wattenmeer auflaufendes Wasser ist und das super gefährlich ist, weil ihr beide noch nicht so gut schwimmen könnt.

Kind spielt am Strand: Altersgerechte Erklärungen helfen Kindern, Grenzen zu verstehen und zu akzeptieren: Wenn die Flut kommt, wird es im Wattenmeer gefährlich
Altersgerechte Erklärungen helfen Kindern, Grenzen zu verstehen und besser zu akzeptieren: Wenn die Flut kommt, wird es im Wattenmeer gefährlich.

Autoritativer Erziehungsstil – ein Mittelweg?

In beiden Fällen werden Grenzen gezogen, einmal eher autoritär, im anderen Fall eher autoritativ. Die amerikanische Psychologin Diana Baumrind untersuchte bereits Mitte des 20. Jahrhunderts in mehreren Studien, wie Verhaltensmuster der Eltern und die Fähigkeit des Kindes, alltägliche Aufgaben zu bewältigen, miteinander zusammenhängen. Sie kategorisierte zunächst drei Erziehungsstile:

  1. Autoritär: Hier spielen Eltern ihre Macht auch mit Gewalt aus und Kinder haben kein Mitspracherecht.
  2. Permissiv: Da sind die Eltern sehr tolerant, setzen wenig Regeln, aber stellen gleichzeitig auch wenig Forderungen.
  3. Autoritativ: Hier haben die Eltern sehr viel Verständnis für die Kinder, aber auch klare Erwartungen.

Kinder leiden unter zu autoritärer Erziehung

Studien zeigen, dass streng autoritär erzogene Kinder oft viel weniger Selbstbewusstsein entwickeln, weniger sozial kompetent und autonom sind und häufiger unter psychischen Krankheiten wie Angststörungen und Depressionen leiden. Während hingegen autoritativ erzogene Kinder selbstbewusster, zufriedener und besser in der Schule seien. Der Grund: Sie haben gelernt, sich intrinsisch zu motivieren und nicht durch Strafen.

Derzeit fänden sich viele Erziehungsstile nebeneinander, beobachtet Juniorprofessor Sebastian Engelmann. Das liege auch daran, dass Wissen sich unterschiedlich verbreite und natürlich auch innerhalb von Familien vieles tradiert werde. Doch solche Glaubenssätze dürfen hinterfragt werden: Welche Grenze ist mir wirklich wichtig und welche spreche ich aus, weil ich denke, sie wird von mir erwartet?

In dieser ganzen Debatte um Grenzen sei jedoch eine Sache unverhandelbar: Das Recht der Kinder auf eine gewaltfreie Erziehung, betont Engelmann. Der Erziehungswissenschaflter ist aber überzeugt: Kinder brauchen sehr wohl eine Autorität, um sich zu orientieren oder sich daran abzuarbeiten, um daran zu wachsen. Das sei aber nicht dasselbe wie autoritär zu sein.

Kinder reagieren unterschiedlich auf Grenzen

Wie viel Grenzen Kinder am Ende brauchen, ist von Kind zu Kind unterschiedlich. Es gibt Kinder, die sehr anpassungsfreudig sind, die sich sogar freuen, wenn Eltern ihnen klare Regeln vorgeben, nach denen sie spielen können. Und:

Es gibt Kinder, die sind am anderen Ende des Spektrums und für die ist jede Grenze, gegen die sie rennen, eine Einladung, noch einmal dagegen zu rennen. Die haben eine ganz große Autonomie in sich. Das sind aber keine bösen oder schlecht erzogenen Kinder. Deren Eltern haben auch nichts falsch gemacht. Die Kinder haben einfach eine andere Persönlichkeitsstruktur.

Doch Kinder, die viel rebellieren und gegen Grenzen gehen – das ist die Gesellschaft nicht gewöhnt, sagt Nora Imlau. Auch nicht, dass es ein Zeichen guter Erziehung ist, wenn Kinder sich trauen, für sich einzustehen, ohne Angst zu haben.

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