Nach dem Putsch: malische Bevölkerung diskutiert ihre politische Zukunft
Gleich zwei Mal hat das Militär innerhalb weniger Monate geputscht. Die militärische Übergangsregierung will Monate, vielleicht Jahre an der Macht bleiben. Die Bevölkerung scheint damit mehrheitlich einverstanden zu sein, allerdings nicht auf Dauer. Die malische Demokratie soll neu gegründet werden, das Volk will daran mitarbeiten.
Im Dezember 2021 haben in Mali die sogenannten "Assises Nationales pour la Refondation" begonnen. In diesen landesweiten Versammlungen diskutiert die Bevölkerung darüber, was sie von der Regierung erwartet, ob die malische Verfassung geändert werden soll, was aus ihrer Sicht in ihrem Staat verbessert werden müsste. Innerhalb von zwei Wochen finden landesweit hunderte solcher Versammlungen statt, bis zu 90.000 Menschen nehmen teil: Junge und Alte, Frauen und Männer. Zehntausende hören stundenlang zu, gehen an die Saalmikrofone, machen Vorschläge, stellen Forderungen.
Bevölkerungsmehrheit unterstützt aufständische Militärs
Das Ausland, auch Deutschland, schaut währenddessen beunruhigt auf Mali. Die westafrikanischen Nachbarstaaten und Europa protestieren gegen die Militärcoups, fordern baldige Wahlen und eine schnelle Rückkehr zur Demokratie. Besonders lautstark ist die Kritik von Frankreich, der ehemaligen Kolonialmacht. Die Bevölkerungsmehrheit dagegen applaudiert den aufständischen Militärs. Die lassen es zum Bruch mit Frankreich kommen und wenden sich an Russland, die Bevölkerung jubelt auch dazu.
Mali ist nicht das einzige afrikanische Land, in dem Militärs in den vergangenen Monaten geputscht haben. Auch im Nachbarland Burkina Faso haben Soldaten eine gewählte Regierung gestürzt, außerdem in Guinea und im Sudan. In Westafrika – nicht im Sudan – jubelt die Bevölkerung den Putschisten zu. Und Russland gewinnt auf dem Kontinent an Einfluss. Warum applaudieren Menschen in Westafrika Putschisten – während sie zumindest in Mali gleichzeitig tagelang über ihre Vorstellung von Demokratie diskutieren? Und was bedeutet das für den Westen?
Mehrparteiensysteme am Ende des Kalten Krieges in Afrika erzwungen
Das neue Bewusstsein für die eigene Identität beeinflusst das Verhältnis zur Demokratie. Das erklärt sich durch die Umstände, unter denen die westliche Form der repräsentativen Mehrparteiendemokratie in Afrika eingeführt wurde. Mit dem Ende des Kalten Krieges und den weltpolitischen Umwälzungen von 1989 bis 1991 gerieten auch die afrikanischen Regierungen unter Druck, sich zu demokratisieren und Mehrparteiensysteme zuzulassen.
Frankreich formulierte diesen Druck besonders deutlich. Die ehemalige Kolonialmacht hatte bis dahin ohne Berührungsängste eng mit afrikanischen Despoten kooperiert, sofern sie die Interessen Frankreichs in Afrika hochhielten. Dann, im Sommer 1991, rief der damalige Präsident François Mitterand Vertreter seiner ehemaligen Kolonien im westfranzösischen Badeort La Baule zusammen. Und er predigte ihnen auf einmal die Tugenden des demokratischen Wandels: "Habt Vertrauen in die Freiheit. Sie ist kein heimlicher Feind, sondern euer bester Freund."
Doch die gewählten Regierungen haben es nicht geschafft, ihre Versprechungen zu halten: Die Bedrohung durch islamistische Gruppen besteht weiterhin, die Inflation ist hoch – und der Staat schafft es nicht, das Eigentum seiner Bürgerinnen und Bürger zu schützen.
Landgrabbing: Dorfbewohner verlieren Land an malischen Großunternehmer
Ein Beispiel aus Mali: Der 63-jährige Benké Diarra ist eigentlich Landwirt, aber seine Felder hat er an einen Großunternehmer verloren – wie auch 158 weitere Familien in seinem Dorf.
Die Flächen liegen in einer der fruchtbarsten Regionen von Mali, dem Binnendelta des Niger-Flusses. Ein malischer Großunternehmer namens Modibo Keïta sei 2010 in ihr Dorf gekommen, um das Land zu kaufen. Modibo Keïta habe den Dorfbewohnern noch nicht einmal einen Kaufpreis angeboten, sondern nur gesagt, sie bekämen dann Arbeit in seiner Fabrik. Ihr Dorfchef lehnte ab. Trotzdem pachtete Keïta das Land von der damals noch zivilen Regierung – obwohl der das Land gar nicht gehörte. Denn bewirtschaftet wurde es von den Bewohnern der beiden Dörfer Sanamadougou und Sahou, und das schon seit Jahrhunderten. Die wurden nun von ihren Feldern vertrieben. Zwar sei nach Protesten das Land vermessen worden und die Regierung versprach, dass die Menschen ihr Land zurückbekommen würden. Passiert ist jedoch nichts.
Benké Diarra und die anderen Dorfbewohner sind davon überzeugt, dass die Vertreter des Staates ihr Recht ignorierten, weil sie von dem Unternehmer bestochen wurden. Wer kein Geld hat, bekommt kein Recht, diese Erfahrung ist weit verbreitet. Das erklärt zu einem guten Teil, warum nun viele Menschen die Militärs an der Staatsspitze tolerieren oder gar begrüßen. Denn die haben versprochen, Malis Schwächen auszumerzen, den Staat neu aufzubauen.
Amtssprache Französisch: viele können am politischen Leben nicht teilhaben
Der Ethnologe Georg Klute forscht seit Jahrzehnten zum und im Sahel und sagt, "der Staat", egal in welcher Verfasstheit, sei für die Bevölkerung in der Region immer etwas Fremdes geblieben. Zwar stammen die Regierenden seit der Unabhängigkeit aus der eigenen Gesellschaft. Aber die Staaten sind Fremdkörper geblieben. Die Gründe sind nachvollziehbar. Ein Beispiel: Die Bevölkerungsmehrheit versteht die Regierungen buchstäblich nicht, denn die Amtssprache beispielsweise in Mali, Burkina Faso und Niger ist Französisch. Große Teile der Bevölkerung sind aber Analphabeten, verstehen kein Französisch, kommunizieren in den Landessprachen. Sie können die Gesetze ihres Landes nicht lesen, die Debatten ihres Parlaments nicht verstehen.
Damit die Staaten Westafrikas zu funktionierenden Demokratien werden, müssten sie demnach so reformiert werden, dass sie von der Bevölkerung als etwas Eigenes anerkannt werden. Dann erst würden sie tatsächlich als Demokratien empfunden, als Herrschaften des Volkes über das Volk.