Sappho: Muse, Sprachkünstlerin, Dichterin
Für den Philosophen Platon war sie eine Muse. Autoren wie Charles Baudelaire, Rainer Maria Rilke oder die Autorin Sylvia Plath schwärmten von Sapphos Sprachkunst. Bei dem Maler Raffael kommt Sappho im Bild gleich nach Homer und Dante. Ihre Liedtexte, zu denen keine einzige Note erhalten ist, inspirieren bis heute Musiker zu eigenen Stücken. Wer war diese berühmte Frau?
Von Sapphos Leben auf Lesbos sind kaum Zeugnisse erhalten
Sappho lebte ungefähr von 630 bis 570 vor Christus auf der Insel Lesbos. Über ihr Leben ist fast nichts bekannt, Fachleute schätzen, dass nur sieben Prozent von Sapphos Werk erhalten sind. Die größte Bibliothek der Antike in Alexandrien soll tausende Verse von ihr besessen haben. Fast nichts davon ist geblieben.

Sappho als Theoretikerin der Liebe
Kaum jemand weiß so viel über Sappho wie der Basler Philologe Anton Bierl. 2021 hat Anton Bierl alle bekannten Textfragmente der antiken Dichterin neu übersetzt, kommentiert und mit einem ausführlichen Nachwort versehen. Herausgekommen ist ein dickes, orangefarbenes Reclam-Buch mit vielen Fußnoten, großem Kommentar – und wenig Originaltext.
Aber das bisschen reicht, um Anton Bierl ins Schwärmen zu bringen. Für ihn ist Sappho die erste und vielleicht genialste Theoretikerin der Liebe, die alles gesagt hat. Sie entwickelt gewissermaßen eine anthropologische Theorie der Liebe, so Bierl.

Sappho über das Leiden an der Liebe
In einem der berühmtesten Sappho-Fragmente, dem sogenannten Kyprislied, beschreibt die antike Dichterin die psychischen und körperlichen Folgen der Liebe. Sie beschimpft die Göttin Kypris und macht sie für ihr Leiden an der Liebe verantwortlich.
Wie denn dürfte einer nicht immer wieder qualvolle Abscheu über denjenigen empfinden, / Herrin Kypris, den er jeweils wirklich liebt, / und nicht vor allem den Wunsch hegen, Erleichterung zu erhalten von den Leidenstorturen, / die du aufrechterhältst? / Mit bebenden Erschütterungen zerreißt du mich sinnlos aufgrund eines Verlangens, das mir meine Knie löst.
Die Liebe als Himmelsmacht
2018 hat Judith Schalansky ein Buch veröffentlicht mit dem Titel „Verzeichnis einiger Verluste“ – ein international vielbeachtetes Werk. In essayistischer Weise kreist sie darin um vermeintlich Verlorenes, das doch irgendwie da ist – der kaspische Tiger, die Bücher des Mani und: Sapphos Liebeslieder.
Im Buch und dem von Judith Schalanskys Partnerin Bettina Hoppe eingesprochenen Hörbuch heißt es:
Wo Sapphos Worte lesbar sind, sind sie so unmissverständlich und klar, wie Worte nur sein können. Besonnen und leidenschaftlich zugleich erzählen sie in einer untergegangenen Sprache, die mit jeder Übersetzung erst zum Leben erweckt werden muss, von einer Himmelsmacht, die auch sechsundzwanzig Jahrhunderte später nichts von ihrer Gewaltigkeit eingebüßt hat: Die plötzliche, ebenso wundersame wie grausame Verwandlung eines Menschen in ein Objekt des Begehrens, das einen wehrlos macht und Eltern, Ehegatten und sogar Kinder verlassen lässt.
Texte von Sappho sind nur bruchstückhaft erhalten
Auf den jahrhundertealten Fragmenten – staubtrockener Papyrus, zerbrochene Tonscherben – lassen sich oft nur wenige Worte entziffern. Für Schriftstellerinnen wie Judith Schalansky und etliche Intellektuelle in den vergangenen Jahrhunderten waren und sind gerade diese Lücken besonders reizvoll.
… Ziegenhirte … Rosen … ich sage … Begierde … Schweiß …
Sappho sei eine geradezu fabelhafte Figur, meint Judith Schalansky, die praktisch kurz nach ihrem Tod schon zum Mythos wird und über die es ungeheuer viele merkwürdige Erzählungen gebe, gerade weil ihr Werk so fragmentarisch sei. Wer sich heute mit ihr beschäftige, beschäftige sich vor allem mit Hinzugedichtetem und Projektionen.
Wenn Männer sich nach Lesbos träumen ...
Berühmt ist Sappho allgemein für ihre erotisch aufgeladenen Zeilen – das Leiden an der Liebe und ihre mögliche Homosexualität sind der Stoff, aus dem bis heute sogar Filme gemacht werden. Grundlage dafür bilden Aufsätze und Romane von Männern aus dem 19. und 20. Jahrhundert, die sich in homoerotisch aktive Mädchenkreise auf Lesbos träumten. Sappho ist da eine Art lesbische Lehrerin / Verführerin.

Sappho wirkt heute erstaunlich modern und stark
Doch Sappho schreibt auch für heutige Ohren erstaunlich modern über die Liebe. Eine starke Frau, die sich in der antiken Männerwelt behauptete, und deren Einfluss auf das spätere, philosophische Denken und die moderne Geistesgeschichte viel größer eingeschätzt werden müsse als bisher, meint der Basler Philologe Anton Bierl. Und sie war bestimmt nicht die einzige.
SWR 2022